Warte, bis du schlaefst
ich das gerade auf dem Bildschirm gelesen? Oder bilde ich mir das nur ein? Warum klingt das so vertraut?
Plötzlich sah er im Geiste seine Mutter bei einer Familienfeier am Klavier sitzen und wie alle Anwesenden dann in den Gesang einstimmten. Vor allem die alten Lieder vom Varieté haben sie geliebt, dachte er. Eines von ihnen begann mit den Worten: »Darling, ach, ich werde alt.«
Leesey wird niemals alt werden. Er presste die Augen gegen die aufkommende Welle von Schmerz zusammen. Das Gefühl der Leere war verschwunden.
Darling, ach, ich werde alt … Silberfäden seh ich bald … sich durch die goldnen Locken ziehn … Das Leben schwindet schnell dahin …
Die Hoffnung schwindet … Das waren die Worte, die mich an dieses alte Lied erinnert haben.
»Dad, ist alles in Ordnung?«
David Andrews sah auf und blickte in das besorgte Gesicht seines Sohnes. »Ich hab gar nicht gehört, dass du hereingekommen bist, Gregg.« Er rieb sich die Augen. »Wusstest du, dass das Leben schnell dahinschwindet? Leeseys Leben.« Er unterbrach sich und setzte neu an. »Nein, falsch. Die Hoffnung ist es, die schwindet, die Hoffnung, dass man sie noch lebend finden wird.«
Gregg Andrews ging auf die Couch zu, setzte sich neben seinen Vater und legte ihm den Arm um die Schultern. »Meine Hoffnung schwindet nicht, Dad.«
»Nicht? Dann glaubst du an Wunder. Warum auch nicht? Ich habe früher auch an sie geglaubt.«
»Und das solltest du jetzt auch tun, Dad.«
»Erinnerst du dich, wie es deiner Mutter scheinbar so gut ging und sich dann über Nacht das Bild verändert hat und sie in kürzester Zeit gestorben ist? Damals habe ich aufgehört, an Wunder zu glauben.«
David schüttelte den Kopf, als versuchte er, die Gedanken zu verscheuchen, dann klopfte er seinem Sohn auf das Knie. »Pass gut auf dich auf, mir zuliebe. Du bist alles, was ich habe.« Er stand auf. »Ich komme mir vor, als ob ich im Schlaf reden würde. Aber mach dir keine Sorgen um mich, Gregg. Ich werde duschen, mich anziehen und dann nach Hause gehen. Hier bin ich ja doch völlig überflüssig. Bei deinen Arbeitszeiten in der Klinik brauchst du einfach deine Ruhe, wenn du hier bist, und zu Hause werde ich mich hoffentlich etwas besser im Griff haben. Ich werde versuchen, irgendwie wieder in den Alltag zurückzufinden und die weitere Entwicklung abwarten.«
Gregg Andrews musterte seinen Vater mit dem gründlichen klinischen Blick des Arztes, registrierte die tiefen Schatten unter seinen Augen, die bleiche Gesichtsfarbe, den plötzlich extrem dünn und zerbrechlich wirkenden Körper.
Er hat nichts gegessen, seit er das von Leeseys Verschwinden erfahren hat, dachte Gregg. Einerseits wollte er etwas dagegen einwenden, dass sein Vater nach Hause fuhr, andererseits hatte er das Gefühl, dass er in Greenwich besser aufgehoben sei, wo er drei Tage in der Woche freiwillig Dienst in einer Notfallambulanz tat und wo er enge Freunde in der Nähe hatte.
»Ich verstehe dich, Dad«, sagte er. »Und vielleicht meinst du nur, dass du die Hoffnung aufgegeben hast, aber ich glaube nicht, dass es wirklich so ist.«
»Glaub es nur«, entgegnete sein Vater kurz.
Vierzig Minuten später, geduscht und angezogen, war er bereit. An der Tür umarmten sich die beiden Männer. »Dad, du weißt, dass ein Dutzend Leute nur darauf wartet, dich zum Essen einzuladen. Tu mir den Gefallen und geh heute Abend mit ein paar Freunden in den Club«, drängte Gregg.
»Heute Abend vielleicht noch nicht, aber sehr bald.«
Nachdem sein Vater gegangen war, fühlte er sich in der leeren Wohnung plötzlich einsam. Wir haben uns beide zusammengerissen vor dem andern, dachte Gregg. Es wird am besten sein, wenn ich meinen eigenen Rat befolge und mich irgendwie beschäftige. Ich werde eine lange Runde durch den Central Park joggen und dann versuchen, ein bisschen zu schlafen.
Er hatte sich bereits vorgenommen, um drei Uhr nachts den Weg zwischen dem Woodshed und Leeseys Wohnung abzugehen, zu demselben Zeitpunkt, zu dem sie aufgebrochen war. Vielleicht stoße ich ja auf jemanden, den ich befragen kann, jemanden, den die Polizei übersehen hat, dachte er.
Detective Barrott hatte ihn darauf hingewiesen, dass Beamte in Zivil das bereits jede Nacht tun würden, dennoch hatte Gregg das übermächtige Bedürfnis, bei der Suche irgendwie mitzuhelfen.
Solange Dad hier war, konnte ich das nicht tun, dachte er. Er hätte darauf bestanden, mitzukommen.
Der Himmel war an diesem Tag zunächst bewölkt
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