Warten auf den Monsun
denn sie wußte, daß die Hausangestellten nichts lieber taten, als Neuigkeiten austauschen. Sie stand in der dunklen Türöffnung des Klavierzimmers, als Hema die Treppe herunterkam. Im linken Bein spürte er ein leichtes Ziehen, und bei jedem zweiten Schritt seufzte er.
»Ma’am!« Er erschrak, als er sie plötzlich da stehen sah.
»Ich möchte, daß du das Zimmer jetzt sofort putzt.«
Madan schaute aus dem Fenster, die Zimmer im Dienstbotenhaus hatten keine Fensterläden, und drinnen war es unwahrscheinlich heiß, doch das machte ihm nichts aus. Er blickte auf den Jasminstrauch, der unter seinem Fenster stand, und entdeckte, daß sein nächtliches Gießen langsam Wirkung zeigte. Die Blätter, die am ersten Tag welk und verdorrt ausgesehen hatten, begannen wieder zu leben. Er beugte sich hinaus und brach einen kleinen Zweig ab. Mit dem Fingernagel kratzte er an der Rinde, dann roch er daran. Der Duft war wieder da.
1955
Bombay
Madan sieht, wie Herr Patel durch den langen Flur geht, ihnen alles Gute wünscht, grüßend die Hand hebt und verschwindet. Er läßt mich allein! Madan will aufspringen und hinterherrennen, als ein schwarz glänzender Junge die Treppe herunterkommt.
»Hallo«, sagt der Junge.
Madan sieht ihn erstaunt an. Der Junge ist über und über mit Maschinenöl beschmiert. Er ist genauso so groß wie er. Das Öl läuft ihm auch übers Gesicht, mit dem Handrücken wischt er es so gut es geht ab. Madan will ihm das Tuch geben, das ihm Herr Patel in die Hände gedrückt hat. Der Junge macht eine abwehrende Geste und sagt voller Bewunderung: »Er hat es selbst gewebt. Schön, nicht?« Er zeigt mit seinem pechschwarzen Finger auf den Stoff. »Darfst du es aufribbeln?« Seine Stimme bekommt einen mißgünstigen Klang.
Madan versteht nicht, warum der Junge neidisch sein könnte auf das Aufribbeln eines Stücks Stoff, und zuckt mit den Schultern.
»Die weißen Fäden sind die Kettfäden und die roten heißen Schußfäden. Du mußt es aber ganz sorgfältig machen.«
Arbeitest du auch hier? fiept Madan unverständlich.
Der Junge sieht ihn lange an, auf seiner Stirn zeigen sich Denkfalten. Er beugt sich vor und sagt zu dem Weber unter der Treppe: »Er kann nicht sprechen.«
Der Weber murmelt etwas, und Madan schaut auf das Tuch in seinen Händen. Es hat nichts Besonderes. Es ist ein ganz gewöhnlicher Baumwollstoff mit roten und weißen Karos.
»Kommst du mit?« Der Junge geht wieder nach oben, bei jedem seiner Schritte bleibt ein öliger Fußabdruck zurück.
Madan blickt noch einmal enttäuscht durch den Flur zur Pforte, aber Herr Patel ist tatsächlich verschwunden, also folgt er dem Jungen die Treppe hinauf. Der Geruch von Öl und Eisen wird stärker, das Dröhnen und Stampfen lauter.
Herr Patel verläßt enttäuscht die Buchhandlung. Er hatte Die genetische Metamorphose bei Einzellern in die Hand genommen und sofort gesehen, daß es sein Buch war, aber der Verkäufer weigerte sich, es ihm zurückzugeben, auch dann noch, als Herr Patel ihm erzählte, was ihm zugestoßen war. Der Ladeninhaber hatte bissig hinzugefügt, dies sei das beste Lügenmärchen, das man ihm je aufgetischt habe, aber mit Philantropie habe er nichts am Hut, und wenn Patel das Buch haben wolle, solle er es sich kaufen wie jeder andere Kunde auch.
Als sein Blick auf die kleine Tür zur Weberei fällt, tritt an die Stelle der Enttäuschung wieder das Schuldgefühl. Er hätte Madan nicht einfach allein lassen dürfen. Er geht noch einmal in den langen dunklen Flur hinein, seine Schritte klingen hohl auf dem Zementboden. Chandan Chandran arbeitet noch immer konzentriert am Webstuhl, aber der kleine Junge, den er die ganze Zeit beschützt hatte, ist nicht mehr da. Wenn er nicht gerade die Enttäuschung wegen des Buchs erlebt hätte, den Druck seines Neffen nicht spüren würde, ausgeschlafen wäre, nicht um seine Wohnung betrogen worden wäre und um das Geld, das man ihm nach den fünf Monaten, die er unschuldig im Gefängnis saß, nicht zurückgegeben hatte, dann hätte er sich vielleicht einfach nach dem Jungen erkundigt. Nun aber gerät Herr Patel zum erstenmal im Leben in Wut, weil Madan mir nichts, dir nichts verschwunden ist. Empört verläßt er das Haus und beschließt, nach Haidarabad zurückzukehren, seinen Geburtsort.
Über die ganze Etage verteilt stehen Webstühle, nicht aus Holz, wie in den Werkstätten an der Straße, sondern aus Eisen; sie werden von kleinen Motoren angetrieben, deren
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