Warten auf den Monsun
erlebt starr vor Staunen, daß der alte Mann die Hand hebt, er hört, daß er ihm alles Gute wünscht, und er sieht, daß er durch den Flur zur Tür geht. Warum läßt er ihn im Stich? Er will nicht wieder allein sein, er muß mit ihm mitgehen zum Hafen, er traut sich nicht allein hin, er will nicht für diesen Weber arbeiten, nicht für diesen Mann mit den seltsamen Haaren unter der dunklen Treppe. Herr Patel! ruft er. Herr Patel!
Herr Patel hört draußen Madans schrilles, tierhaftes Quieken. Er bleibt stehen, er darf den Jungen hier nicht allein zurücklassen, er muß etwas anderes für ihn finden, etwas für sie beide. Er dreht sich um, er will rufen, als sein Blick auf die Auslage im Schaufenster der Buchhandlung fällt: Dort, mitten zwischen den anderen Büchern, liegt Die genetische Metamorphose bei Einzellern ! Der braune Umschlag mit der Abbildung der ovalen Planktomyceten mit ihrer Zellwand aus Glykoproteinen. Ein Schauer überrieselt Herrn Patels Haut, und sein Mund ist auf einmal staubtrocken. Das fade braune Buch strahlt ihn an. Es ist, als sei er Madan nie begegnet, als habe er nie einen Weber unter einer Treppe aufgesucht, nicht monatelang unschuldig im Gefängnis gesessen, als sei er nicht von seinem Vermieter hereingelegt worden, als habe er keinen ungefälligen Neffen. Er vergißt alles und betritt den Buchladen.
1966
Rampur
Der Krankenwagen braust mit heulender Sirene davon. Charlotte rennt zum Auto ihres Vaters. Als sie den Motor starten will, fällt ihr ein, daß er die Schlüssel immer in der Hosentasche bei sich trägt, wahrscheinlich sind auch sie zertrümmert. Sie springt aus dem Auto und hält eine Rikscha an. Die Männer, die schweigend zugeschaut haben, wie die Krankenpfleger den bewußtlosen Mann auf eine Trage legten, laden die Rohre wieder auf den LKW . An manchen klebt noch Blut, das in der Sonne trocknet und am rostigen Eisen bald nicht mehr zu sehen sein wird.
»Schneller!« treibt Charlotte den Rikschafahrer an. Das Sirenengeheul verebbt, zugleich schwindet ihr Gefühl, daß ihr Vater noch lebt. »Schneller!« Sie sieht die Welt um sich herum einstürzen. Die Häuser an der Straße zerfallen, während sie daran vorbeifährt. Die Pflastersteine versinken in tiefen Kratern, und der Wasserverkäufer fällt tot um, nachdem die Rikscha ihn passiert hat. Das Prasseln des Stahls und das bald verstummende Geschrei spielen sich immer wieder in ihrem Kopf ab. Die Stille, die auf den ohrenbetäubenden Lärm folgte, wird immer größer. Sie hört die Autos nicht mehr, die an ihr vorbeifahren, den Ruf des Milchmanns, das Kläffen des Hundes, alles verliert sich in der Totenstille, in der sie nach dem erlösenden Klang sucht, nach der Parole, die ihr sagt, daß es vorbei ist, daß es nicht wahr ist, daß es nicht passiert ist.
Das Krankenhaus, ein mehr als zweihundert Jahre alter Kolonialbau, hat noch dieselbe Eingangstür. Charlotte war früher schon mal hier, in den Armen von Sita, sie war fünf und beim Spielen die Treppe runtergefallen, die Zähne waren in die Lippe geschlagen, und sie blutete so schrecklich, daß ihr Kleid rot geworden war, Mutter hatte ihre Tränen trocknen wollen, aber nur Sita hatte sie trösten können. Es war das einzige Mal gewesen, daß das Kindermädchen, mit Erlaubnis ihres Vaters, ins Auto gedurft hatte, mit der leise weinenden Charlotte auf dem Arm. An diesem Tag hatte ihr Vater nichts dazu gesagt, daß sie weinte. Nur dieses eine Mal. Sita hatte sie sanft gestreichelt und sie geküßt. Der Duft nach Kokos und Ingwer, der sie immer umgab, hatte etwas Beruhigendes. Ihre Mutter war vor dem Haus stehengeblieben, weil sich Sita mit dem blutenden Kind in den Armen auf ihren Platz im Auto gesetzt hatte. Der Chauffeur raste den Hügel hinab. Leise begann Sita zu singen – mit warmen, nasalen Tönen –, und Charlotte sah durch ihre Tränen, wie ihre Nasenflügel zitterten und ihre Lippen sich spannten, um die unverständlichen Worte zu singen. Sie vergaß den Schmerz und das Blut und horchte auf die träumerischen Klänge, die das Auto erfüllten. Als sie beim Krankenhaus ankamen, spürte sie die Schmerzen nicht mehr.
Charlottes Finger fährt an die Oberlippe, die Narben sind vergessen, aber der Schmerz kommt plötzlich heftiger zurück, als er in ihrer Erinnerung war.
In der Luft hängt ein betäubender Geruch nach Desinfektionsmitteln. »… nichts mehr übrig«, hat sie eine diensthabende Krankenschwester einer Kollegin zuflüstern hören.
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