Warten auf den Monsun
den Hema in die Mitte des Zimmers gerückt hatte. Er wußte nicht recht, wie er anfangen sollte. Nervös sah er sich um. Widerwillig setzte er sich und drehte ein wenig am Antriebsrad der Maschine. Die Nadel schoß auf und ab. Vor ihm lag der Berg Stoffe, neben ihm die Schere und das kleine Fläschchen mit Nähmaschinenöl. Er schraubte es auf und begann die Maschine routiniert zu ölen. Plötzlich hörte er über sich Schritte. Er hielt inne und blickte besorgt zur Decke. Er folgte den Schritten, die zum Fenster gingen und wieder zurück ins Zimmer. Sein Blick glitt zu den dunklen Flecken an der Wand, wo Bilder gehangen haben mußten. Er machte weiter mit dem Ölen der Nähmaschine. Oben hörte er eine Tür auf- und zugehen. Das Fläschchen rutschte ihm fast aus der Hand, und um das Nähfüßchen bildete sich eine kleine Öllache. Erschrocken suchte er nach einem Lappen, um das Öl schnell aufzuwischen, aber es gab nur die kostbaren Stoffe der Damen aus dem Club. Er öffnete den Schrank, fand darin aber nur ein paar in Plastiktüten verpackte Fotoalben. Jemand kam die Treppe herunter. Er wurde noch fahriger, hob sein Bein und benutzte die Innenkante des Saums seiner Hose. In rasender Eile wischte er den Fleck weg, zog den obersten Stoff vom Stapel und setzte sich wieder an die Maschine. Er hörte, wie sich die Schritte näherten. Die Person im Flur blieb kurz stehen. Er schob den Stoff unter das Füßchen und nähte einfach los. Die Schritte entfernten sich. Er stoppte, sah auf den Stoff, seufzte und trennte die sinnlose Naht wieder auf.
1966
Rampur
Vor dem Krankenhaus stehen keine Rikschas und Taxis mehr. Es ist schon weit nach Mitternacht, die Operation ihres Vaters hat mehr als zwölf Stunden gedauert, aber Charlotte hat jedes Zeitgefühl verloren. Nachdem sie eine Weile vergeblich gewartet hat, beschließt sie, zu Fuß zu gehen. Im Licht der Sterne und vereinzelter Straßenlaternen wandert sie zum Zentrum von Rampur. Ihr Haus liegt auf der anderen Seite der Stadt. Es kommt selten vor, daß sie allein unterwegs ist, immer ist entweder ein Kuli bei ihr, der die Einkäufe trägt, oder der Bobajee, der auf dem Markt viel besser feilschen kann als sie. Außer einem schnarchenden Hund und einer schlafenden Ziege ist kein Lebewesen auf der Straße zu sehen. Die Hektik des Tages ist friedvoller Stille gewichen.
An der St. Stephen’s Chapel bleibt sie stehen. Es ist zu dunkel, um den Friedhof hinter der Kirche sehen zu können. Laß Papa am Leben bleiben, betet sie zur Kirchturmspitze. Charlotte betet sonst nie, schon nicht mehr seit ihrem letzten Jahr im Internat, wo sie jahraus, jahrein jeden Sonntag in die Kirche gehen mußte und täglich betete, aber nie eines ihrer Gebete voller Hilferufe erhört wurde. Nach Peters Tod hatte sie dem Beten für immer abgeschworen. Laß ihn leben, bitte.
Ob es die Stille der Nacht ist oder die Dunkelheit der Stadt – die beklemmende Angst, die sie im Krankenhaus erfaßt hatte, läßt nach, und sie fühlt sich, als seien die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Die Sorge um das Leben ihres Vaters verflüchtigt sich, und ihre Füße berühren den Boden nicht mehr. Daß sie auf dem Weg nach Hause war, ist nicht mehr wichtig. Sie läuft nicht mehr, sie tanzt beinahe, die Arme wie Elfenflügel leicht gespreizt.
Erst dann hört sie die Musik, so leise und verweht, daß sie Teil des Millionen Lichtjahre entfernten Sternenhimmels ist. Die Gasse, in die sie einbiegt, kennt sie nicht, auch nicht das Haus, dessen Tür einladend offensteht. Sie schiebt den Vorhang beiseite. Sie tritt in den von Zigarettenrauch erfüllten Raum, überall auf dem Boden sitzen Leute. Die Musik, die sie hierher gelockt hat, ist noch genauso zart und zerbrechlich wie im ersten Moment, als sie an ihr Ohr drang, nur sind die Klänge jetzt viel reicher und klarer. Mitten im Zimmer, auf einem kleinen Podest, um das brennende Kerzen stehen, sitzen drei indische Musiker, einer spielt Tabla, ein anderer eine Art Xylophon, und in ihrer Mitte sitzt ein Sitarspieler. Niemand im rauchenden Publikum scheint sich über ihre Anwesenheit zu wundern, und obwohl sich ihr blondes Haar und die weiße Haut von den Menschen im Raum abheben, spürt sie, daß sie willkommen ist. Sie setzt sich auf ein Kissen, das ihr jemand zuschiebt, und schließt die Augen. Die himmlischen Klänge erfüllen sie, und alles, was an diesem Tag passiert ist, scheint vergessen.
Der Sitarspieler beginnt zu singen. Charlotte öffnet die Augen
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