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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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und blickt auf den singenden Mann im Schein des Kerzenlichts. Nasale Klänge mit unverständlichen Worten. Sie kann die Augen nicht von ihm lösen. Sie schaut auf seine langen, schlanken Finger, die über die Saiten gleiten, seine schwarz umrandeten Augen, seinen Mund, der von einer Welt singt, in der sie noch nie war.
     
    Sie hat niemanden aufstehen oder weggehen hören, aber als die Musiker das Konzert beenden, sitzen nur noch ein paar Zuhörer in dem Zimmer, das vorher gedrängt voll war. Die letzte Note verklingt. Die Leute unterhalten sich leise. Die Musiker stehen auf und packen ihre Instrumente ein. Die Panik, die verschwunden war, beginnt sie von den Zimmerecken aus wieder zu bedrängen. Die Augen zu schließen hilft nicht, wo soeben noch Licht war, sinkt die Dunkelheit herab. Ihr Atem wird schneller. Sie wischt sich die Spuren der Tränen, die Erleichterung brachten, von den Wangen. Sie steht auf und geht auf den Sänger zu. Er sieht sie an, sie sieht ihn an. Jeder Schritt in seine Richtung ist ein Schritt weg von der Welt, aus der sie kommt. Sie weiß, daß sich alles ändern wird, wenn sie weitergeht. Sie zögert nicht.
     
    Das Zimmer ist leer bis auf die blonde Frau und den Sitarspieler, die schweigend nebeneinandersitzen. Eine letzte Kerze brennt noch. Er bietet ihr etwas zu rauchen an. Sie hat seit Jahren nicht mehr geraucht, aber nimmt die Zigarette. Er gibt ihr Feuer. Bei der leichten Berührung seiner Hand ist sie wie elektrisiert. Auch er zündet sich eine Zigarette an. Sie inhaliert den scharfen Tabakrauch tief. Ein Schwindelgefühl durchströmt sie, als es nachläßt, nimmt sie wieder einen Zug. Es kommen keine Erinnerungen, es gibt nur Verlangen.
    Sie sitzen still da. Draußen ruft eine Eule. Sie ruft nach ihnen. Sie bläst den Rauch zum offenen Fenster, wie eine Wolke, die zum Himmel aufsteigen darf. Der Tabak brennt sanft auf ihrer Zunge. Noch ein Moment, und auch die letzte Kerze wird erlöschen. Sie horcht auf die Geräusche der Nacht. Er nimmt ihre Hand – oder nimmt sie seine?
     
    Sie haben kein Wort gewechselt. Seinen Namen weiß sie nicht, aber sie schmeckt ihn noch auf ihren Lippen, und sie riecht noch seine Haut. Der Himmel war rosafarben, als er aus ihr glitt, sie aufstanden, sich anzogen und hinausgingen. Jeder in eine andere Richtung. Die Eule rief noch einmal, dann schlug Charlotte den Weg nach Hause ein.
     
    ***
     
    Lieber Donald,
    ich muß Dir viel erzählen, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wenn Du hier wärst, wäre alles viel einfacher. Ich habe die Telefonnummer angerufen, die Du mir gegeben hattest, aber keiner nimmt ab. Ich hoffe, daß nichts passiert ist und daß Dich dieser Brief erreicht. Vater hatte einen sehr schlimmen Unfall. Vier Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod, aber gestern abend machte er die Augen auf und sah mich wieder an. Erst dachte ich, er sei mir böse, dann wurde mir klar, daß er starke Schmerzen hat. Was passiert ist, läßt sich schwer beschreiben. Eine Ladung schwerer Eisenrohre ist auf ihn gefallen. Das Schwierigste ist, daß es seine eigene Schuld war. Er wird wahrscheinlich nie mehr laufen können, aber das weiß er noch nicht. Auch nicht, daß seine Stiefel zerschnitten worden sind. Manchmal glaube ich, daß er das am schlimmsten finden wird. Ich wünschte mir, daß ich ihm das alles nicht sagen müßte. Darum wäre es mir jetzt noch lieber als ohnehin schon, wenn Du hier wärst, dann könnten wir es zusammen tun. Er ist von Kopf bis Fuß eingegipst. Die Ärzte haben gesagt, es sei Unsinn, seine zertrümmerten Unterschenkel noch einzugipsen, aber ich bin davon überzeugt, daß Vater es nicht überlebt, wenn ihm die Beine amputiert werden; wenn er sie behält, auch wenn er nicht mehr damit laufen kann, findet er wahrscheinlich die Kraft zum Kämpfen. Wie lange er im Krankenhaus bleiben muß, kann mir niemand sagen, aber es wird bestimmt noch Monate dauern. Rufst Du mich bitte an, wenn Du diesen Brief bekommst? Ich würde gern kurz mit Dir reden. Ich schicke den Brief als Eilsendung, dann hast Du ihn am schnellsten.
    Grüße von Deiner Schwester Charlotte

1955
Bombay
     
     
     
    Ganz vorsichtig, ohne den Faden zu zerreißen, ribbelt Madan den Stoff auf. Er wundert sich, daß ein Faden so lang sein kann, fast endlos. Er sitzt auf der Leiter zum Duftspeicher, wie er den kleinen Raum nennt, und ist mit dem rot-weißen Tuch beschäftigt. Subhash, der Maschinenschmierer, hat Meister Chandran gefragt, ob Madan sich oben

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