Warten auf den Monsun
Der Operationssaal befindet sich hinter einer olivgrünen Tür, die schon seit zwei Jahrhunderten die gleiche Farbe hat. Olivgrün beruhigt, hat sie mal irgendwo gelesen. Aber ihr Herz pocht, in ihren Ohren rauscht es, sie spürt den Herzschlag bis zum Hals. Sie kann nicht sitzen bleiben, sie tigert vom einen Ende des Flurs zum anderen. Ihr Plan, von dem sie ihm an diesem Tag beim Abendessen erzählen wollte, künftig selbständig zu leben, hängt wie ein böses Omen über ihrem Kopf und folgt ihr bei jedem Schritt. Hatte er vielleicht gefühlt, daß sie weg will? Er darf es nicht wissen. Nicht jetzt. Er muß leben. Erst wieder auf beiden Beinen stehen. Seinen Spaziergang machen. Er darf nicht sterben. Die große Tür geht auf, und eine besorgt aussehende Krankenschwester kommt herausgerannt. Sie weicht Charlottes fragendem Blick aus und läuft in einen Raum, um kurz darauf mit einem dicken Buch zurückzukommen und wieder im Operationssaal zu verschwinden. Weiß der Arzt nicht, wie er operieren muß? Sie haben ihr versichert, er sei der beste Chirurg im Umkreis, wie unbewandert sind dann die anderen? Bei Peters letzter Operation ging es auch schief. Seine zitternden Hände versagten ihm den Dienst. Er brauchte kein Buch, er wußte genau, was er tun mußte, nur machte das unkontrollierbare Zittern alles unmöglich. Ob dieser Arzt auch in Birma gewesen ist? Die olivfarbene Tür bekommt etwas Grimmiges. Ist es das Tor zum Tod, zu der unvorstellbaren Welt, die als Jenseits bezeichnet wird, wo Peter und Mutter sein müssen, zusammen mit all den toten Soldaten und Zivilisten? Ob sie einander gefunden haben? Es war ein Gedanke, den sie immer als absurde Vorstellung von sich abschüttelte, aber der sie jetzt, in diesem feuchtwarmen Flur, nicht losläßt. Ist Vater wohl auch bei ihnen, oder lebt er noch? Hoffentlich steht in dem Buch das, was der Arzt sucht. Wenn er nur nicht stirbt. Sie will nicht allein sein. Papa, laß mich nicht allein, fleht sie. Am Ende des Flurs fliegt die Tür auf, eine Krankenschwester mit einem Rollwägelchen rennt in den Flur, die stählernen Instrumente klirren laut. Ohne Charlotte eines Blickes zu würdigen, stößt sie mit dem Karren die olivgrüne Tür auf und steuert auf den Operationssaal zu. Auch die Tür am anderen Ende des Ganges fliegt auf, ein Arzt, der seinen Kittel erst halb anhat, rennt ebenfalls zur olivgrünen Tür. Er lebt noch, anders kann es nicht sein, sonst würden sie nicht rennen, denkt Charlotte erleichtert.
Die Tür geht auf, ein erschöpfter Arzt kommt auf sie zu. Sie sieht es schon an seiner Miene. Nach einer unpersönlichen Begrüßung sagt er ihr, es bestehe kaum eine Chance, daß er die Nacht überlebe. Charlotte spürt, daß sie gleich in Ohnmacht fällt, aber weigert sich, ihrem Körper nachzugeben. Sie will ihren Vater sehen. Es kostet sie alle Überzeugungskraft, den unwilligen Mann zu überreden, daß er sie nur für eine Minute in den OP -Saal läßt. Wutschnaubend sagt er, daß fremde Bakterien nun wohl das letzte seien, was ihr Vater brauchen könne.
Sie sieht nur sein unverletztes Gesicht. Der Rest ist unter einem weißen Tunnel verborgen. Er sieht aus, als schlafe er.
»Er sieht gar nicht so schlimm aus«, sagt sie erstaunt.
»Sein Kopf nicht, nein. Aber der Rest! Nichts ist mehr am richtigen Platz«, sagt der Arzt. »Als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht.«
Charlotte sieht den Mann sprachlos an.
Jetzt erst wird dem Mann klar, daß er mit einer Angehörigen spricht. »Wie man so sagt«, versucht er seine Worte schnell abzuschwächen. Er schiebt sie sanft aus dem Saal.
»Danke schön, Herr Doktor«, flüstert sie und geht durch den langen Flur, verläßt das Krankenhaus und tritt in die warme Tropennacht hinaus.
1995
Rampur
»Sie haben gerufen, Ma’am?«
Charlotte stand im Klavierzimmer. »Ich will, daß der Tisch aus dem Arbeitszimmer des Darsi hier steht.« Sie zeigte in die Mitte des Zimmers, direkt unter den rotierenden Ventilator.
»Aber der Darsi arbeitet gerade, Ma’am.«
»Das hier wird sein Arbeitszimmer.«
»Hier?«
»Ja, hier.«
Hema sah seine Chefin verzweifelt an. »Aber Ma’am, er ist ein Darsi.«
»Na und?«
»Ein einfacher Darsi.«
»Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß wir oft den Maharadscha Man Singh besucht haben, damals, als mein Mann noch lebte. Die Ländereien des Maharadschas waren riesig, es gab Stallungen mit Araberpferden, englische und italienische Gärten,
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