Warten auf den Monsun
hinsetzen dürfe, und der hatte mit einem sparsamen Kopfnicken zugestimmt.
Madan ist noch immer wütend auf Herrn Patel, der ohne ein Wort zu sagen verschwunden ist. Nun kann er sich heute nacht, wenn er wach wird, auch nicht mehr heimlich einen Apfel nehmen. Ihm knurrt der Magen, und er hat keine Ahnung, ob er wie bei Ram Khan am Ende des Tages ein paar Reste bekommt oder vielleicht überhaupt nichts. Subhash kann er nicht fragen, der ist mit einer Kanne Schmieröl in eine Maschine gekrochen, und auch die Weber sind alle emsig bei der Arbeit. Er zieht weiter an dem Faden, zu fest – das Garn reißt. Subhash hatte ihm gesagt, daß er das ganze Tuch aufribbeln müsse, ohne den Faden zu zerreißen, also knotet er die beiden Enden zusammen, was bei dem dünnen Faden gar nicht so einfach ist.
»Du hast ihn allein bei Chandan Chandran gelassen?« fragt sein Neffe leicht besorgt.
»Du hattest doch gesagt, er könnte dort Arbeit finden.«
»Ich hätte nie gedacht, daß es klappen würde.«
»Es hat auch nicht geklappt.« Herr Patel, der so schnell wie möglich nach Haidarabad zurückkehren wollte, war noch mal bei seinem Neffen vorbeigegangen, um die Tasche mit den wenigen Habseligkeiten, die ihm noch geblieben waren, abzuholen.
»Aber du hast ihn doch da zurückgelassen?«
»Als ich nach einer halben Stunde wiederkam, war er nicht mehr da.«
»Zum Glück«, sagt der Neffe erleichtert.
»Wieso, zum Glück! Da habe ich etwas für das Kind gefunden, und es läuft sofort weg.«
»Chandan Chandran, ich weiß nicht«, murmelt ein Kunde deutlich hörbar.
»Was wissen Sie nicht?« fragt Herr Patel und sieht den Mann, der mit drei Bananen in der Hand wartet, erstaunt an.
»Ach was, nichts«, sagt sein Neffe.
»Was meinst du mit nichts?« fragt Herr Patel. »Du hast gesagt, ich soll den Jungen zu ihm schicken.«
»Das haben Sie wirklich gesagt?« fragt der Kunde sichtlich schockiert den Neffen.
Der Neffe hebt die Hände und macht eine Geste, als schiebe er alle Schuld von sich. »Es gab keine andere Möglichkeit.«
»Was ist denn mit diesem Chandran?«
Herr Patel bereut es, daß er gekommen ist, um seine Tasche zu holen, sie enthält ja nichts Wichtiges mehr; Ibrahim, der Mörder, hat ihm alles abgenommen, was ihm lieb und teuer war, und der Rest befindet sich in den Taschen des Polizeikommissars.
»Er scheint ziemlich …« Der Kunde sucht nach Worten. »… ziemlich sonderbar zu sein.«
»Er wollte, daß der Junge ein Stück Baumwollstoff aufribbelt!« bestätigt Herr Patel, der den Weber auch merkwürdig fand.
»Das wollte er von ihm?« amüsiert sich der Kunde. »Und was wollte er noch?«
»Nichts, nur, daß der Junge den Stoff aufribbelt.«
»Sonst hat er nichts gesagt?«
Herr Patel erzählt dem Kunden lieber nicht, daß er den Mann am Webstuhl nicht nach Arbeit für den Jungen fragen mochte, weil er gespürt hatte, daß der Junge dort nicht bleiben wollte. So wie er spüren konnte, wenn der Junge im Gefängnis Angst hatte. Daß er deshalb eine Geschichte über seine Doktorarbeit erzählt hatte, an der er schon zehn Jahre arbeitete, aber die er ohne seine Bücher wahrscheinlich nie würde vollenden können. Er erinnert sich daran, wie der Weber plötzlich gefragt hatte: »Ist das der Junge?« Wie hatte der Mann wissen können, daß das eigentlich seine Frage war?
Der Neffe seufzt und wiegt die Bananen ab. »Warum machen wir uns überhaupt Gedanken, das Bürschchen ist aufgeweckt genug, und es gibt Wichtigeres. Hast du gehört, daß wir wieder gegen Pakistan spielen?«
»Wann?« fragt der Kunde.
Herr Patel greift zu seiner Tasche, nimmt sich, ohne daß der Neffe es sieht, einen Apfel aus der Kiste und läßt ihn in die Tasche gleiten. »Ich muß los, sonst verpasse ich den Zug.«
Madan begreift, wie die Fäden miteinander verbunden sind, eine Menge kurzer Fäden und ein langer. Jedesmal, wenn die Farbe wechselt, fängt ein neuer Faden an, der so, wie er es gemacht hat, mit dem vorigen verknotet ist. Er merkt, daß sich der lange Faden am besten herausziehen läßt, wenn er den Stoff flach auf den Boden legt, damit sich die Fäden nicht verheddern. Er kniet auf dem Fußboden. Seinen knurrenden Magen hat er vergessen, auch seine Wut über das Verschwinden von Herrn Patel. Er ist fasziniert von dem Faden, der länger und länger wird. Als er fast fertig ist, wird es zunehmend schwieriger, der lange Faden verfängt sich immer öfter in den kurzen Fäden.
Er hat den langen Faden vollends
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