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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Schlag mit dem Rüssel, daß er durch die Luft fliegt. Der Elefant dreht sich um und senkt den Kopf. Mit seinem Stoßzahn schabt er über den Boden und fegt den Mann weg. Der Mantel reißt, und ein Bein ist seltsam verdreht. Der Finger des Vizekönigs krümmt sich um den Abzug. Er sieht nur den faltigen Buckel zwischen den kleinen Augen. Der Elefant hebt den Kopf wieder, wirft den Rüssel hoch in die Luft. Er trompetet gellend. Der Vizekönig zieht die Unterlippe in den Mund, kneift die Augen zusammen. Als sich der Rüssel wieder nach unten bewegt, schießt er. Die Kugel pfeift durch die Luft und schlägt in die Stirn des Elefanten. Das Tier scheint nichts zu spüren, es brüllt und faucht. Es dreht sich um und tritt wieder auf den Mann. Ein Junge mit einem Seil schlägt den Elefanten und versucht den Mann wegzuziehen, aber der Elefant klatscht auch diesen Jungen mit einem einfachen Rüsselschlag von sich weg. Der Vizekönig blickt angstvoll auf das Tier. Er ist sich sicher, daß er genau zwischen die Augen getroffen hat. Neben ihm dauert der Hustenanfall des Maharadschas an. Zwischen zwei Attacken japst er: »Gut gemacht.«
    Der Vizekönig begreift gar nichts mehr. Der Elefant dreht sich um zu einem Mann auf einem Pferd, der sich von hinten genähert hat, er senkt den Kopf und rammt ihn gegen das Pferd, das sich aufbäumt. Auch der Elefant wirft Kopf und Vorderbeine in die Luft. Sein Rüssel langt nach dem Himmel. Der Maharadscha zeigt auf das Tier. Langsam gerät der Elefant ins Wanken. Er taumelt. Er kreischt. Er sucht Halt. Seine Knie knicken ein. Sein Kopf schlägt von links nach rechts. Er faucht einen letzten Notschrei und sackt quälend langsam in sich zusammen. Der Boden zittert. Die Männer jubeln. Der Vizekönig sieht stolz den Maharadscha an, der keuchend fragt: »Wie heißt dieser Halsdoktor?«
    Der Vizekönig sieht ihn erstaunt an. »Der Halsdoktor …? Der heißt Peter Harris.«

1942
Queen Victoria College
     
     
     
    Lieber Donald,
    ich wünsche Dir frohe Weihnachten. Hast Du schon einen Brief von Vater bekommen? Ich dachte mir, vielleicht hat er ja nur einen Brief geschrieben und den dann an Dich geschickt. Falls das so ist, schickst Du ihn bitte an mich weiter? Bei uns in der Schule ist es prima. Seitdem Krieg ist, sind hier viel mehr Kinder aus Indien. Mit denen verstehe ich mich gut, denn wir alle finden, daß es hier kalt ist. Nach den Sommerferien darf ich in einen kleinen Schlafsaal. Das ist viel schöner, habe ich gehört. Dann dürfen wir auch eine halbe Stunde länger aufbleiben. Hast Du schon gefragt, ob wir uns einmal besuchen dürfen? Mrs. Blackburn, unsere Direktorin, hat gesagt, wenn der Krieg ruhig bleibt, geht es vielleicht in den Sommerferien, aber das dauert ja noch eine Weile. Ich gehe jetzt schlafen. Denkst Du an Vaters Brief?
    Auf Wiedersehen,
    Deine Schwester Charlotte

1995
Rampur
     
     
     
    Charlotte lag auf dem Bett und »rauchte«. Der Ventilator über ihr drehte sich, und draußen zirpten die nächtlichen Grillen. Die Fenster und Läden standen sperrangelweit offen, und auf dem Schreibtisch beim Fenster brannte eine Kerze und beleuchtete Papierbögen mit lauter Berechnungen. Auf dem Fußboden lagen zerknüllte Blätter. Aus dem alten Transistorradio erklang Tanzmusik. Ihre Zehen bewegten sich im Takt. Früher wäre Charlotte aufgesprungen und durchs Zimmer getanzt. Jetzt ließen sich nur noch ihre Zehen verlocken. Sie sehnte sich nach der Kühle der Nacht, aber die Abendbrise ließ auf sich warten. Ihr dünnes Nachthemd klebte an den Brüsten, und auf ihrer Stirn mit den Sorgenfalten standen Schweißtropfen. Traumwind, das Wort kam ihr plötzlich in den Sinn. Traumwind, einer der Winde des Mannes auf dem Schiff. Ihre Begleiterin hatte ihr verboten, noch einmal über ihn zu sprechen oder auch nur an ihn zu denken. Das hatte sie als sechsjähriges Mädchen versucht, aber immer erschien er mit blutüberströmtem Gesicht in ihren Träumen, und sie wachte weinend auf. Sie dachte wieder an die Puppe, die sie »Glücksmädchen« genannt hatten; die Frau, die sie Tante Ilse nennen mußte, hatte sie über Bord geworfen, weil er sie repariert hatte. Aber auch wenn Charlotte nicht an ihn denken durfte, so hatte ihr doch niemand verboten, an die Winde zu denken. In ihrem Bett in dem feuchtkalten Schlafsaal des Internats versuchte sie jahrelang, die lange Liste mit den Winden zu wiederholen. Viele Winde hatte sie vergessen, aber die wichtigsten wußte sie noch. Den sanften Wind und

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