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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Daß alles wieder so war wie immer. Wenn der Darsi doch fortgehen würde, er war die Ursache von allem Übel …
     
    Sie saßen nebeneinander auf der untersten Treppenstufe. Die Stoffe hatten sie zusammengefaltet und zu einem hohen Stapel aufgetürmt. Ganz oben lag die scharlachrote Seide. Zum ersten Mal in dieser Nacht waren ihre Gedanken ruhig. Es gab keine Scham mehr, keine Unsicherheiten, keine nicht-gestellten Fragen. Auch die Angst war verschwunden, es gab nur eine Offenheit, die sie beide mit Glück erfüllte. Die Uhr schlug sechs. Die letzte Kerze brannte noch, Charlotte blies sie aus. Draußen kletterte die Sonne schon über den Horizont, um schnell die Nacht vergessen zu machen. Charlottes und Madans Augen strahlten. Sie schnupperte seinen Duft, er den ihren. Sie sahen einander an, ohne zu blinzeln, sich bewußt, daß der Moment vorbei sein konnte, wenn sie die Augen schlossen. Sie wußten, daß sie Abschied nehmen mußten, aber versuchten, es hinauszuschieben, es durfte jetzt noch nicht zu Ende sein. Sie konnte sich vorstellen, wie sich sein Körper anfühlte, sein Gesicht, seine Haut. Er sah die Farben ihrer Augen und ihrer Lippen. Seine Hand suchte ihre Hand. Ihre Finger streckten sich. Sie wollten für immer zusammen sein.
    Ein Klicken. Sie hörten, wie die Personaltür geöffnet wurde. Ihre Augen leuchteten.
    »Hallo? Ist da jemand?« rief eine Frauenstimme auf Englisch.
    Sie sahen sich verwundert an. Nur Hema, Madan und Charlotte benutzten den Seiteneingang, Besuch kam normalerweise durch den großen Haupteingang.
    Erwartest du jemanden?
    Charlotte wollte die Frage verneinen, aber ihre Gedanken flogen in alle Richtungen. Sie hatte Hema mit dem Tee erwartet und vorgehabt, den Tee zusammen mit Madan zu trinken, die Stoffe ins Klavierzimmer zu tragen und ihm dabei zuzuschauen, wie er ihr scharlachrotes Kleid schneiderte. Sie hatte sich vorgenommen, nichts mehr auf die Blicke Außenstehender zu geben, auf die fremden Zungen, die ihr Leben bisher bestimmt und ihr nichts als Einsamkeit beschert hatten. Sie wollte sich nicht mehr von Scham, Angst und Prinzipien zurückhalten lassen. Sie würde niemanden verletzten. Sie würde mit ihm fortgehen, in aller Stille, und die Feigheit auf der Türschwelle zurücklassen.
    Er hörte ihre Gedanken. Ihre Erlösung von der Angst hatte ihn mit sich getragen, nach oben, zu einem Gefühl, das er bis dahin nicht kannte. Seine Scheu und seine Zaghaftigkeit lagen auf seinen Flügeln bereit, damit er sie abschüttelte, wegflog, Grenzen überschritt zu Orten, deren Mauern sie Stein für Stein einreißen würden. Es war das Strahlen in ihren Augen und das Lächeln ihrer Seele, das ihm den Mut gegeben hatte, sich neben sie zu stellen, seine Schüchternheit zu vergessen.
    »Hal – lo – o!« rief die Stimme ungeduldig.
    Er spürte, daß der Mut, der unbesiegbar erschienen war, zu verblassen begann. Er hörte, wie ihre Gedanken konfuser wurden, Fragezeichen setzten und Barrikaden errichteten, die einen Moment zuvor nicht bestanden hatten.
    Charlotte ging zum Nebeneingang und erblickte eine junge weiße Frau, eigentlich noch ein Mädchen. In ihre roten Haare, die wild nach allen Seiten abstanden, hatte sie ein giftgrünes Band geschlungen. Sie trug eine blaue Jacke und eine weite, knallgelbe Seidenhose mit aufgestickten Ornamenten, und an ihren Ohren baumelten große Ohrgehänge.
    »Suchen Sie etwas?« fragte Charlotte.
    »Ja, dich«, sagte das Mädchen.
    »Mich?«
    »Ich bin Issy.«
    »Issy?«
    »Hast du meinen Brief nicht bekommen?« Sie seufzte. »Nichts klappt hier. Ich hab versucht, anzurufen, aber das blöde Ding funktioniert nicht.«
    »Brief?« Charlotte, die in den letzten Wochen nur Rechnungen und Briefe der Bank erhalten hatte, hatte keine Ahnung, wer das Mädchen war.
    »Schon ganz schön heiß, was? Hast du was zu trinken?« Sie streifte die Slipper von den Füßen. »Die Eisenbahnen hier. Phantastisch. Ich bin erster Klasse gefahren, das mußte ich Papa versprechen, der hat nämlich gemeint, in der zweiten und dritten Klasse kann alles mögliche passieren, richtige Betten, ich habe so gut geschlafen, auf dem Bahnhof wußten sie sofort, wo ich hinwollte, ich brauchte nur zu sagen ›Bridgwater house‹, und die Rikscha hat mich hierher gebracht, meiner Meinung nach hat er zwar einen Umweg gemacht, aber dafür habe ich jetzt schon die halbe Stadt gesehen, alles ist so preiswert, also daß die Leute davon leben können, ich will hier nie wieder weg, ich kapier nicht,

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