Warten auf den Monsun
Spule, sitzt Madan auf einem Schemel in der Mitte eines Zimmers. Er ist niedergeschlagen. Vor ihm steht eine große, schwarze Tretnähmaschine, mit verschnörkelten Buchstaben bemalt. In einer Ecke des Raums liegt eine Schlafmatte aus Schilf. Am liebsten würde er gleich wieder fortgehen, denn es ist offenkundig, daß Dr. Krishna Kumar kein richtiger Doktor ist. Aber weil Meister Chandran ihm eigens den Zettel mit der Adresse gegeben und sogar noch telefoniert hat, bleibt er sitzen. Vielleicht kommt noch ein anderer Doktor oder vielleicht ist der Bruder von Dr. Krishna Kumar ein Arzt? Oder ein Neffe von ihm?
Auf der Nähmaschine liegen ein Stück schwarzer Seide, eine weiße Garnrolle und eine Schere. Als nach einer Viertelstunde immer noch niemand in den Raum gekommen ist, beginnen seine Füße unwillkürlich mit dem Pedal zu spielen. Es ist genauso eine Maschine wie die von Ram Khan, nur schöner und neuer. Auch das Zimmer, in dem er sich befindet, erinnert ihn ein bißchen an die Kiste, in der er damals eingeschlossen wurde, denn Dr. Krishna Kumar hat, als er ging, die Tür abgesperrt. Obwohl er enttäuscht ist und nicht weiß, warum er hier sitzen soll, empfindet er es doch als angenehm, daß es hier niemanden gibt, der etwas von ihm verlangt, ihm etwas gebietet oder befiehlt. Er sieht zu, wie die Nähmaschinennadel auf und ab geht, immer schneller, je fester er tritt. Er nimmt den Stoff und schiebt ihn unter das Füßchen. Der Stoff bewegt sich weiter, aber weil er keine Spule eingelegt hat, erscheint keine Naht.
Es sind die Erinnerungen an Ram Khans Gefluche, wenn er die Nähmaschine einfädelte, und an Subhashs ewiges Gequatsche über Maschinen und Mechanismen, auch wenn Madan müde war und schlafen wollte, die ihn dazu anspornen, das weiße Garn auf die Spule zu wickeln, die kleine Klappe beiseite zu schieben und zu versuchen, die Spule in das Loch darunter zu friemeln. Erst als er nach ein paar Minuten ergebnislosem Rumprobieren zufällig wieder aufs Pedal tritt und die Nadel nach oben geht, sitzt die Spule auf einmal richtig im Gehäuse. Zufrieden schaut er auf, aber da ist niemand, der es gesehen hat. Er denkt wieder an den Doktor, der kein Doktor ist, und ahnt langsam, daß auch kein richtiger Doktor mehr erscheinen wird. Mit einem Ruck zieht er den dünnen Faden unter dem Füßchen hervor, so wie er es oft für Ram Khan tun mußte, weil der weitsichtig war. Obwohl er noch nie zuvor genäht hat, weiß er, daß er mit dieser Maschine etwas Wunderbares erschaffen kann, also faltet Madan den Stoff auseinander. Das Stück ist nicht groß, aber die Seide ist sehr kostbar, das hat er gleich gesehen. Die Schere läßt er liegen. Er will nur ein Gefühl dafür bekommen, wie die Maschine näht. Er will sehen, wie die Nadel durch den Stoff fährt, und er will mit dem Garn einen geraden Strich zeichnen. Er legt die Seide wieder unters Füßchen und läßt es herab. Nähen mit einem Pedalsystem erfordert große Geschicklichkeit, das merkt er sofort. Der Faden macht Schlingen, und was soeben noch ein unversehrter, schimmernder Seidenstoff war, ist nun die Pfuscharbeit eines schlechten Schneiders. Mit geübter Handfertigkeit zieht Madan den Faden vorsichtig wieder heraus und fängt von vorn an. Als er den Seidenstoff zum fünften Mal unter das Füßchen legt, hat er begriffen, wie er das Tempo halten muß und daß das Rad, das durch seine Fußbewegungen angetrieben wird, nicht stottern darf, sondern sich gleichmäßig drehen muß. Auf der schwarzen Seide erscheint seine erste gerade genähte weiße Linie. Noch einmal blickt er stolz hoch, um erneut festzustellen, daß ihm niemand zusieht. Ihm knurrt der Magen, seit gestern abend hat er nichts mehr gegessen. Er näht noch eine Linie und noch eine. Die Nähte werden immer gerader, die Stiche immer gleichmäßiger. Als die Spule leer ist, befüllt er sie von neuem und näht Linie um Linie um Linie. Am Anfang weichen die Linien noch etwas voneinander ab, aber je öfter er es wiederholt, um so gerader werden sie. Nach einer Weile dreht er den Stoff um neunzig Grad und näht wieder Linie um Linie. Ohne es geplant zu haben, hat er den schwarz-weiß karierten Stoff des Saris, den Chandan Chandrans Tochter trug, kopiert.
In den Raum fällt kein Tageslicht, aber sein Zeitgefühl sagt ihm, daß es Abend sein muß. Sein Magen knurrt nicht mehr, das Hungergefühl ist verschwunden. Madan streichelt vorsichtig über den karierten Stoff, der auf seinem Schoß liegt. Das Kribbeln im
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