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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Welt, die sie vergessen hatte, von der sie glaubte, es gebe sie nur in ihren Träumen.
    »Du hast noch keinen Stoff für mein Kleid ausgewählt!« rief sie, rannte nach oben und warf ein meergrünes Tuch hinunter.
    Madan konnte es gerade noch auffangen, bevor es auf die flackernde Kerze fiel.
    Sie lachte und warf einen lilafarbenen Stoff hinunter, der wie ein Falter flatterte, und wieder fing Madan ihn direkt vor den Flammen auf. Eine Farbe nach der anderen flog herab. Ein Regen aus Ultramarin, Silber, Orange, Jade, Ocker, Blauviolett, Violettblau, Rosa, Goldgelb, Rotbraun und Himmelblau. Wie ein Jongleur griff er sie lachend aus der Luft.
    Als der letzte Stoff herabsegelte, rannte sie wieder hinunter und stellte sich vor ihn. »Welchen wirst du nehmen?«
    Er breitete die Bahnen aus, die auf dem Boden lagen. Rot ist die Farbe der Leidenschaft und des Begehrens.
    Charlotte merkte, wie sie errötete.
    Orange gehört zu frischen Früchten und trägt Vitalität und sexuelle Kraft in sich. Gold, verstehst du, ist Erfolg und Reichtum. Gelb ist wie die Wissenschaft, die Logik und der Geist. Hellgrün, eine Wiese nach dem allerersten Regen, bringt Offenheit und hoffnungsvolle Erwartung. Altes Grasgrün dagegen ist die Farbe der Natur und der Vergänglichkeit. Türkis ist mit spirituellem Bewußtsein verbunden, Blau mit dem Himmel und dem Unwirklichen, Indigo steht für lauteres Wissen und Violett bringt Kraft und Würde hervor.
    »Aber was steht mir am besten?«
    Rot.
    Ihre Wangen glühten noch mehr. »Rot gibt es in so vielen verschiedenen Tönen. Bedeutet denn jeder Farbton etwas anderes?«
    Blutrot birgt Drama in sich, Kadmiumrot Distanz, Ockerrot Wärme, Zinnober Erregung, Magenta Dominanz, Karminrot Lust, und Scharlachrot ist pure Liebe. Er nahm verschiedene rote Stoffe und legte sie nebeneinander auf die Treppe.
    »Jetzt sieht es aus wie ein roter Teppich«, kicherte sie und versuchte, ihn vom Thema abzulenken. »Ich werde einen Himmel machen.« Sie suchte ein paar blaue Stoffe zusammen. Bei jedem Stück, das sie in die Hand nahm, hörte sie seine Stimme: Blauschwarz, Violett, Azurit, Delfter Blau, Indigo, Preußischblau, Ultramarin. Sie band die Tücher an das Treppengeländer, aber es glückte ihr nicht, einen Himmel daraus zu machen. Die Stoffe rutschten weg, und so einfach, wie der rote Läufer entstanden war, so stümperhaft wurde ihr Himmelsgewölbe.
    Madan begann zu lachen, geräuschlos, aber Charlotte hörte ihn in ihrem Kopf. Einen Moment war sie beleidigt, daß er sie auslachte, denn sein Lachen kollerte durch ihren Kopf. Aber als sie ihn ansah und in seine strahlenden Augen blickte, begriff sie das ungewohnte Lachen, das voll und pur war, und lachte auch. Zuerst mit normalen Lauten, wie sonst auch, aber als ihr Lachen schrill durch den marmorgetäfelten Raum hallte, suchte sie nach dem Lachen in ihrem Kopf. Es war ein ganz anderes Lachen als das, was sie gewohnt war.
     
    Sie hörten nicht, daß die Personaltür geöffnet und sofort wieder zugezogen wurde, um dann erneut einen kleinen Spalt aufzugehen. Hema traute seinen Augen nicht. Die Memsahib und der Darsi saßen auf der Treppe, beide mit weit geöffnetem Mund, als würden sie schallend lachen. Waren sie krank und litten an einer Magenkolik? Doch die Hunderte Kerzen und die bunten Tücher, die um sie herum ausgebreitet waren, sagten ihm, daß etwas anderes im Gange war. Er war sich unschlüssig, ob er anklopfen sollte, um sein Kommen anzukündigen, oder einfach in den Raum treten und sie überfallen. Er tat keins von beidem.
    Leise schlich er sich ins Küchenhaus zurück und wünschte sich, niemals Zeuge dieser Szene gewesen zu sein; was er hier gesehen hatte, war so schlimm, daß er es nicht mal dem Butler der Nachbarn zu erzählen wagen würde, denn die Verrücktheit seiner Arbeitgeberin würde ihn in dessen Augen nur noch mehr herabsetzen. Er würde es niemand erzählen, auch nicht dem Gesellen im Friseurgeschäft unten am Hügel, der ihm jeden Tag einen anderen Witz erzählte, nicht den Ladeninhabern, bei denen er auf Pump kaufen durfte, nein, keinem einzigen Menschen. Er wollte es vergessen und redete sich ein, er habe es nur geträumt. Er sank auf seine Matte nieder und zog die Decke über sich. Was in aller Welt taten sie da? Er blickte auf seine Armbanduhr und sah, daß es fast vier war. Die Sonne würde bald aufgehen, und dann müßte er Wasser kochen für den Tee. Er hoffte, daß nichts von dem, was er gesehen hatte, dann noch da sein würde.

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