Warten auf den Monsun
griff zu ihrer Cola und trank das Glas leer.
Die beiden Frauen sahen sich verdutzt an. Die Karten für die Gala waren binnen einer Woche ausverkauft gewesen, sie hätten aber sicher, weil es sich um eine Nichte von Charlotte und die Enkelin ihres ältesten Mitglieds handelte, eine Ausnahme gemacht, doch das Mädchen schien überhaupt nicht daran interessiert zu sein.
Die Frau von Nikhil Nair stand auf. »Wir müssen wieder los, sonst wird es zu spät. Könntest du den Schneider bitten, unsere Kleider heute oder spätestens morgen früh zu uns nach Hause zu bringen?« Sie winkte ihrer Freundin, doch die starrte atemlos auf das trinkende Mädchen. »Gehen wir?« wiederholte sie ungeduldig. Ihre Freundin hörte nichts. Die Frau von Nikhil Nair hüstelte grimmig und lief zur Tür.
Jetzt erst merkte die Frau von Ajay Karapiet, was von ihr erwartet wurde, und stand widerwillig auf. Sie wollte überhaupt nicht gehen. Sie wollte den Geschichten dieses exotischen Mädchens zuhören. »Willst du meine Telefonnummer?« fragte sie.
Die Frau von Nikhil Nair sah ihre Freundin erstaunt an.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich mal mit diesem besonderen Telefon anrufst.«
Charlotte und Madan hörten die Damen die Treppe hinabgehen, der Chauffeur startete den Wagen, aber sie bekamen trotzdem noch jedes Wort mit. Die beiden Freundinnen stritten sich.
Sie wollen ihre Kleider, kicherte Charlotte.
Die sind noch nicht fertig.
Ich dachte, sie seien fertig.
Noch nicht ganz. Ich warte noch.
Worauf?
Auf den Regen.
Auf den Regen? Aber wir haben doch noch Wasser.
Nicht genug.
Durch die vertrockneten Zweige blickten sie zum Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Charlotte genoß es, neben ihm zu sitzen und mit ihm zusammen hochzuschauen. Am liebsten würde sie die Zeit anhalten, bis die ersten Tropfen fielen.
Es kann nicht mehr lange dauern.
Im Radio sagen sie schon seit zwei Wochen, daß der Regen kommt, sagte Charlotte, als sei die Verständigung über Gedanken das Normalste auf der Welt.
Wir müssen zeigen, daß er willkommen ist.
Glaubst du etwa auch an Regentänze? Charlotte zupfte ein vertrocknetes Blatt von der Christrose, das bei der Berührung zerbröselte.
Kein Tanz – nur ein Zeichen, ein Signal.
Wie denn?
Eimer.
Charlotte mußte lachen. Als ob sich der Monsun durch ein paar Eimer anlocken ließ.
Es funktioniert wirklich.
»Ja«, sagte sie, aber sie dachte nein und er hörte es. Ich muß gehen, dachte sie.
Wirst du sie verkaufen?
Charlotte sah ihn erstaunt an. Sie fühlte die Uhr in ihrer Hand, wußte aber genau, daß sie nicht an sie gedacht hatte, sie hatte nur einen Moment an das Geldproblem gedacht. Wie konnte er es dann wissen?
Du hast es gedacht.
Ich habe nicht daran gedacht. Wir haben von Regen und von Eimern gesprochen, nicht von seiner Uhr.
Du hast vorher daran gedacht. Als du mir von deiner Nichte erzählt hast.
Verstehst du denn auch Gedanken, die mir gar nicht bewußt sind?
Ich weiß nicht, wie ich es gehört haben kann, aber ich habe es gehört.
»Ich gehe.« Sie kroch unter dem Strauch hervor, klopfte den Staub und die Blätter vom Kleid, zog den Sonnenhut zurecht und lief schnell den Hügel hinab. Sie wollte nicht, daß er noch mehr von ihren Gedanken hören konnte.
Verwundert sah Hema, wie Memsahib aus der Christrose auftauchte. Er wußte, daß sie heimlich den Rasen mähte, um kein Geld für einen Gärtner ausgeben zu müssen, aber daß sie auch die Sträucher stutzte, war ihm nicht klar gewesen. Er zog sich schnell zurück, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, und sah sie den Hügel hinabeilen. Als er ein paar Sekunden später den Schneider unter demselben Strauch hervorkriechen sah, bekam er so einen Schreck, daß er sich verschluckte, ohne etwas getrunken zu haben. Er mußte fürchterlich husten. Madan merkte, daß man sie ertappt hatte, und wurde wütend auf sich selbst. Er hätte nie zu ihr unter den Busch kriechen dürfen. Er hätte sich beherrschen müssen, als er ihre Gedanken zwischen dem Laub flüstern hörte. Sie waren nicht für ihn bestimmt gewesen. Er mußte fortgehen. Er durfte sich nicht wünschen, hierzubleiben, denn immer, wenn er glaubte, glücklich zu werden, ging es schief.
1973
Haidarabad
Sein Magen knurrt. Nach dem Apfel, den er gestern gestohlen hatte, hat er nichts mehr gegessen. Er klopft an die Tür, als er eine Stimme hört, drückt er sie auf. An einem kleinen Tisch im Flur sitzt eine alte Frau. Ihre Hände ruhen auf einer
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