Warten auf den Monsun
schnell ansteigenden Wasser.
Nur noch ganz wenig Leute sind auf der Straße und kämpfen wie er gegen den immer lauter heulenden Wind und den Sturzregen. Seine durchnäßten Sachen schlottern ihm um den Körper, die tosende Gewalt weht ihn fast weg. Auf der anderen Straßenseite sieht er einen alten, tief gebeugten Mann mit einem Päckchen in den Händen. Plötzlich wird der Mann vom Sturm umgeweht und verschwindet unter Wasser.
Madan denkt keine Sekunde nach, vergißt den Wind und rennt mit großen Schritten zu der Stelle, wo er den Greis in den Fluten untertauchen sah. Etwas gleitet an seinen Füßen entlang, der Sog ist gewaltig, auch er wird fast mitgerissen. Er bückt sich, greift ins Wasser und zieht ein zappelndes und prustendes Männchen heraus, das sein Paket fest umklammert. Der Mann wiegt kaum etwas, Madan muß ihn gut festhalten, damit der Sturm ihn nicht aus seinen Händen zerrt. Wie einen Sack Mehl legt er sich den Mann über die Schulter und spannt seine ganze Kraft an, um dem saugenden Wasserwirbel zu entkommen. Er schafft es zu den Häusern. Madan hält sich an einem Fenstergitter fest. Schritt für Schritt stapft er mit seiner Last weiter. Endlich findet er ein offenes Hausportal, zu dem eine Treppe hochführt. Das Wasser steht schon mindestens einen Meter hoch. Er geht hinauf und legt den Mann, der noch immer hustet, neben sich nieder. Madan klopft ihm vorsichtig auf den Rücken und hat dabei Angst, ihm etwas zu brechen.
Nachdem er noch eine Weile prustet und japst, bekommt der alte Mann wieder Luft und setzt sich neben ihn. »Ich hab mich verschluckt, glaube ich«, preßt er heraus. »Hoffentlich ist es nicht beschädigt«, fährt er in Panik fort und wickelt das Päckchen aus. Ein altes Buch kommt zum Vorschein. »Ich muß es trocknen. Jetzt gleich! Sonst kleben die Seiten zusammen.«
Madan weist auf den endlos herabklatschenden Regen, der ihnen wie ein Vorhang die Sicht versperrt.
»Aber ich habe es endlich gefunden, es war so viele Jahre verschollen.«
Madan mustert den Mann. Etwas kommt ihm bekannt vor, was ist es, die Stimme? Die Hände? Die nervösen Bewegungen … Dann fällt es ihm ein. Er ist viel grauer und krummer, und sein Gesicht besteht nur noch aus Falten, aber sonst hat er sich nicht im geringsten verändert, Herr Patel. Er würde ihn am liebsten umarmen. Noch nie hat Madan jemanden wiedergesehen, den er verloren hat, und für ihn ist sein alter Gefängniskumpel wie ein Verwandter. Begeistert zeigt Madan auf sein Gesicht, aber weil sein Buch naß geworden ist, ist Herr Patel so verstört, daß er nichts merkt. Madan nimmt die Hand des alten Mannes und legt sie zwischen seine beiden nassen Hände, er führt die alte, verkrümmte Hand zu seinem Gesicht und berührt damit seine Stirn.
Herr Patel stockt mitten in einem Satz. Schaut Madan an, kneift die Augen zusammen, sieht ihm angestrengt ins Gesicht, forscht in seinem Gedächtnis.
Madan bewegt den Mund, ohne einen Laut hervorzubringen, und gibt zu verstehen, daß er nicht sprechen kann.
»Sohn«, flüstert Herr Patel.
Sie sitzen zusammen auf der Treppe. Der Regen peitscht noch immer tosend herab, und der Sturm schwillt weiter an. Herr Patel schweigt. Madan hat das Buch Die genetische Metamorphose bei Einzellern auf dem Schoß und pustet jedesmal zwischen die Seiten, bevor er weiterblättert.
»Betest du noch immer?«
Madan nickt.
»Ich nicht. Ich habe es nicht mehr gewagt.«
Madan schlägt die nächste Seite um und bläst auf die Zeichnung eines Pantoffeltierchens.
»Ich hätte dich nicht zurücklassen dürfen. Ich wußte nicht einmal, wer dieser Mann war. Ich bin zurückgegangen, aber du warst weg. Wo warst du hin? Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«
Wie kann Madan von den Jahren in der Weberei von Herrn Chandran, dessen Unterricht über die verborgene Kraft von Kräutern, Blumen und Bäumen erzählen, von seinen Gefühlen für dessen Tochter, seiner Freundschaft mit Subhash, dem Maschinenschmierer, seiner Arbeit in der Werkstatt von Dr. Krishna Kumar? Er zieht seine neue Spule aus der Tasche und zeigt sie Herrn Patel.
»Bist du Schneider geworden?«
Madan nickt.
»Wo?«
Madan starrt auf den Regen, eine Armee von Millionen Pfeilen, die sich nach unten bohren. Er kann gut verstehen, daß Herr Patel damals gegangen ist. Er hat es ihm nie übelgenommen.
Herr Patel legt den Arm um ihn. »Kommst du gleich mit mir nach Hause, Sohn?«
Auch Madan legt den Arm um den alten, zerbrechlichen Mann. Zusammen
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