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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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schauen sie in den Regen.

1995
Rampur
     
     
     
    Madan breitete die rote Seide auf dem Tisch aus. Das Fenster und die Läden standen offen, aber die ersehnte Nachtkühle glitt nicht über die Fensterbank herein. Charlotte saß auf dem Stuhl an der Wand und sah ihm zu. Kleine Tropfen glänzten auf seiner Stirn. Bisher hatte sie geglaubt, die Hitze mache ihm nichts aus. Um seinen Hals hing ein Meterband. Ohne Maß zu nehmen, sogar ohne sie anzuschauen, setzte er die Schere an, wie ein Boot, das rasant durch spiegelglattes Wasser pflügt, schnitt die Schere Linien und Kurven. Der Tisch wurde eine Landkarte voller roter Inseln. Draußen zirpten die Grillen, im Salon schimpfte Isabella vor sich hin, weil sie noch immer Probleme mit ihrem modernen Telefon hatte. Als sie ein Geräusch draußen allmählich als Sirene eines in der Ferne vorbeirasenden Feuerwehrautos erkannte, setzte Charlottes Herz kurz aus. Sie wußte nie, wann Parvat gerade im Dienst war. Der Monsun mußte endlich einsetzen, jeder Tag des Wartens bedeutete eine größere Brandgefahr. Die Bäume und die Häuser waren staubtrocken. In der ganzen Stadt war kein Fleckchen Feuchtigkeit mehr zu finden. Die Mauerasseln und anderes Ungeziefer, das sich gern an feuchten Orten aufhielt, hatten sich so tief in die Erde eingegraben, daß jeder davon überzeugt war, sie würden erst in einem Jahr wieder an die Oberfläche kommen.
    Wir müssen die Eimer rausstellen, dann kommt der Regen.
    Glaubst du wirklich daran?
    Nicht nur ich, alle. Hast du die Eimer und Schüsseln nicht gesehen?
    Sie hatte tatsächlich die Töpfe und Krüge vor Sitas Haus gesehen, und auch in den Gassen auf dem Weg zu ihrem Haus standen überall Kübel und Fässer, um Wasser aufzufangen. Zögernd stand sie auf. Und sei es nur, dachte sie, als sie hinausging, um dafür zu sorgen, daß Parvat nicht in einem Feuer umkommt.
     
    In der Küche brannte zwar Licht, aber Hema war nicht da. Auf dem Bord über dem Spülstein waren Töpfe ordentlich aufgestapelt, unterm Spülstein standen zwei giftgrüne Plastikeimer. Weil sie wußte, daß er außer sich geriet, wenn sie einen Topf oder einen Eimer wegnehmen würde, lief sie zum Schuppen des Mali. Sie wollte gerade hineingehen, als Madan mit einem Stapel zerbeulter Zinkeimer herauskam. Mit strahlendem Lächeln gab er ihr einen davon. Sie stellte ihn auf den Boden.
    Nein, du mußt ihn einladen.
    Wen?
    Den Regen.
    Er nahm den Eimer und stellte ihn auf die abgebröckelte Säule am Fuß der Steintreppe, die zur Haustür führte.
    Anlocken .
    Er stellte den zweiten Eimer auf die Säule gegenüber; einst hatte der Architekt hier Statuen vorgesehen, aber daraus war nie etwas geworden.
    Und auf die Stufen.
    Charlotte erinnerte sich daran, daß früher bei Festen ein roter Läufer auf der Treppe gelegen hatte, und die Bediensteten mit blauen Livreejacken und goldfarbenen Mützen hatten mit Federbüschen in den Händen Spalier gestanden. So exakt, wie sich damals die Dienstboten aufgereiht hatten, stellte sie nun die Eimer auf die Stufen.
    Ja! hörte sie Madan rufen.
    Er rannte zurück zum Schuppen, sie hörte es laut scheppern und klappern, dann kam er staubbedeckt mit einem zweiten Stapel heraus. Sie stellte die Gefäße links und rechts neben den Pfad, so wie damals die Fackeln an der Auffahrt gestanden hatten.
    Wir brauchen noch mehr, dachte sie, von seinem Eifer angesteckt, auch neben den völlig ausgetrockneten Beeten mußte es Signale geben, damit der Regen dazu verlockt würde, loszubrechen.
     
    Hema schleppte zwei schwere Kanister den Hügel hinauf. Er war froh, daß es ihm geglückt war, das Wasser für fast den gleichen Preis wie am Vortag zu erstehen, denn es wurde stündlich teurer.
    Schon von weitem sah er Memsahib und den Darsi mit den Eimern rennen. Auf seinem Gesicht erschien ein sehr großes Lächeln, und der Hügel, den er so oft verflucht hatte, kam ihm auf einmal wie ein ebener Weg vor. Er hatte es nicht gewagt, Memsahib darum zu bitten, weil er wußte, wie sehr sie den indischen Aberglauben verabscheute, aber nun hatte es der fremde Darsi getan! Vor fünf Jahren, als der Monsun auch auf sich warten ließ, waren sie das einzige Haus im ganzen Umkreis gewesen, das keine Eimer draußen stehen hatte, und viele Einwohner von Rampur waren davon überzeugt gewesen, daß sich der Regen deshalb noch eine Woche länger Zeit gelassen hatte.
    Charlotte, die sah, wie sich Hema mit den schweren Kanistern abmühte, verstand nicht, warum er sie rief. Sie hatte

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