Warten auf den Monsun
dicht nebeneinander wie im Gefängnis.
Die heimelige, geschützte Sphäre, die sie sich geschaffen haben, steht in krassem Gegensatz zur Außenwelt, wo die Gruppe umherziehender Obdachloser täglich größer wird. Überall in der Stadt schlafen Männer und Frauen vor den Gebäuden und zwischen den Karren, sie sind auf der Suche nach Arbeit, Essen und ihren vermißten Verwandten. Sie haben nur das nackte Leben gerettet, und manche haben kaum etwas anzuziehen. Witwe Sethi, eine Nachbarin, die über Herrn Patel wohnt und sich, seit auch ihre letzte Tochter verheiratet ist, nutzlos und einsam fühlt, hat beschlossen, die Kleidung ihres verstorbenen Mannes, eigene Kleider, die sie nie anzieht, und Kleidungsstücke, die ihre Kinder zurückgelassen haben, den Obdachlosen zu geben.
Bis in Herrn Patels Zimmer ist das Gepolter zu hören; eine lange Schlange steht vor der Tür von Witwe Sethi, zieht sich durchs ganze Treppenhaus, an Herrn Patels Tür vorbei, und reicht auf der Straße bis zum Bäcker an der Ecke. Alle warten geduldig.
Über ihren Köpfen knarrt der Dielenfußboden, soviel Betrieb gab es im Haus noch nie. Auch Herrn Patels Seufzer hören sich anders an als sonst. Als es an ihrer Tür klopft, steht er unwirsch auf. Er schreibt gerade an einer sehr komplizierten Passage über den Pollenschlauch, der aus dem Pollenkorn durch den Griffel zum Fruchtknoten in der Samenanlage wächst, und möchte nicht gestört werden.
»Ach, entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Patel, aber es handelt sich um einen Notfall! Bei Ihnen wohnt doch derzeit ein Schneider?« sagt Witwe Sethi schnaufend, denn auch sie ist nicht mehr die Jüngste.
»Das ist mein Sohn, und er ist ein sehr guter Schneider«, sagt Herr Patel und zeigt ihr sein neues Hemd.
»O! Ihr Sohn? Das wußte ich nicht!« Ihre schrille Stimme schneidet durch den Raum. »Kann er mir mal eben bei dieser Hose helfen?«
Madan steht auf und stellt sich neben Herrn Patel.
»Er sieht Ihnen überhaupt nicht ähnlich.« Als sie die tiefe Falte sieht, die sich auf Herrn Patels Stirn bildet, setzt sie hastig hinzu: »Aber mein Sarika sieht mir genaugenommen auch nicht ähnlich.«
Madan greift nach der Hose. Herr Patel seufzt.
»Ich hab die Hose abgesteckt, weil sie viel zu groß ist, aber die Nadeln sind so spitz, und ich will die armen Leute ja nicht piksen, sie haben es schon schwer genug!«
Ich komme mit nach oben, gestikuliert Madan, er gibt ihr die Hose zurück, packt seine Nähmaschine ein und schiebt sie sanft zur Tür hinaus.
»Danke, Sohn«, flüstert Herr Patel und widmet sich wieder seinen Büchern.
Auf der Treppe sitzen halbnackte Männer, Frauen und Kinder. Die meisten starren schweigend vor sich hin, manche haben die Augen geschlossen, schlafen aber nicht. Madan und die Witwe müssen über die Menschen hinwegsteigen, um ins obere Stockwerk zu gelangen.
Das Zimmer der Witwe Sethi ist zweimal so groß wie das von Herrn Patel, aber mindestens hundert Mal so voll. Überall stehen Schränke, aus denen Kleidung und Wäsche quillt, und auf den Schränken steht eine Unmenge von Schnickschnack, darunter Götterfiguren und alle möglichen Andenken. Auf ihrem Bett und drumherum hat sie die Kleidungsstücke ausgebreitet, die sie weggeben will, und in der Ecke, die als Küche dient, stehen so viele Teller und Tassen, daß es wie in einem Trödelladen aussieht. Mitten im Raum steht ein schüchterner junger Mann, der nur ein zerrissenes Tuch um die Hüften trägt. Der Mann, der Fischer war und seine Familie, seine Hütte und sein Boot verloren hat, weil nicht seine schwangere Frau, sondern er selbst zum Markt gegangen war, um den Fang zu verkaufen, wartet mit gesenktem Kopf. Madan sieht auf einen Blick, daß ihm die Hose nie passen wird, und zeigt auf den einzigen Tisch, der mit undefinierbaren Frauensachen überladen ist.
»Muss das alles weg?« seufzt Witwe Sethi.
Madan nickt. Die Witwe schiebt ihren Plunder unters Bett, wo eigentlich auch kein Platz mehr ist. Madan mustert den Fischer unauffällig. Es ist noch gar nicht so lange her, daß er auch auf der Straße lebte und nichts besaß. Jetzt hält er seinen großen Stolz, seine eigene Singer-Nähmaschine, in der Hand. Vorsichtig stellt er sie auf den leeren Tisch. Die Witwe gibt ihm einen Schemel und läßt sich zwischen die Kleidungsstücke auf ihr Bett plumpsen. Der Fischer starrt noch immer auf seine nackten Füße. Madan zieht die Nadeln aus der Hose, wendet sie auf links und legt sie unter die
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