Warten auf den Monsun
Maschine.
»Wie traurig, nicht wahr, all die armen Leute, sie haben alles verloren, wirklich alles, sieh dir nur mal diesen jungen Kerl an, ein starker Mann, aber einfach alles weg, und halbnackt findet man auch keine Arbeit, man ist zum Betteln verurteilt, und die Schlange vor der Tür, ich kann sie doch so nicht rumlaufen lassen, weil wir nur den Regen und den Wind hatten und nicht die Flut, meine ich, und die Wellen, bei mir hat es zwar auch durchgeregnet, aber das ist natürlich nichts im Vergleich zu dem, was ihnen passiert ist, ich äh … ich hoffe nicht, ich äh … Sie äh?«
Madan blickt fragend hoch.
»Sie machen es doch umsonst, oder?«
Madan nickt und beugt sich wieder über seine Arbeit, um kurz darauf die Hose unter der Nähmaschine hervorzuziehen. Er sieht den Mann erwartungsvoll an, und Witwe Sethi wendet den Blick ab, als der Fischer die Hose anzieht. In dem Moment, als er sie sich über die Hüften zieht, passiert etwas – der Mann, der bis dahin schüchtern und zusammengesunken im Zimmer stand, sieht auf einmal wie ein junger, kräftiger Bursche aus, der Energie ausstrahlt. Sogar die Furchen der Trauer, die sein Gesicht durchziehen, verschwimmen. Witwe Sethi blinzelt erstaunt, und auf Madans Gesicht erscheint ein Lächeln.
»Jetzt noch ein Hemd!« sagt sie voller Überzeugung, obwohl sie soeben noch vorhatte, jedem in der Schlange nur ein Kleidungsstück zu schenken. Sie zieht ein weißes Oberhemd hervor, das ihr Mann immer trug, wenn er ins Büro ging.
Madan gibt dem Mann zu verstehen, daß er sich umdrehen soll, und prägt sich die Form seiner Schultern und seines Nackens ein. Dann wendet er das Hemd und ändert ein paar Nähte.
Als der Mann das Hemd anzieht, sieht er aus wie ein Held aus einem Bollywoodfilm. Witwe Sethi bereut es plötzlich, daß sie ihre jüngste Tochter schon jemand anderem zur Frau gegeben hat, denn dieser Mann wäre bestimmt ein geeigneter Heiratskandidat gewesen. Sie will den Fischer eigentlich nicht ziehen lassen, erst nach einer weiteren Tasse Tee und der wiederholten Aufforderung, wieder mal vorbeizuschauen, läßt sie endlich den nächsten Bittsteller herein.
Eine klapperdürre Frau mit langen glatten Haaren, die ihr halb vor den Augen hängen. Sie erzählt Witwe Sethi, daß sie ihre ganze Familie verloren hat, sogar ihren Urgroßvater, daß rund um die Stelle, an der ihr Haus gestanden hat, Leichname im Wasser trieben, die so aufgedunsen und blau angelaufen waren, daß sie sie nicht erkennen konnte, daß sie zusammen mit den anderen Überlebenden aus ihrem Dorf versucht hat, die Leichen zu verbrennen, aber daß sich das Feuer nicht entzünden ließ, weil das Holz zu naß war, daß sie aus einem angeschwemmten LKW Diesel abgezapft und über die Leichen gegossen haben.
Madan hört schockiert der monotonen Stimme zu, die ohne jede Gefühlsregung spricht, als ob sie eine Lektion herunterleiert. Der Witwe Sethi werden die Augen feucht, und sie zieht einen ihrer Hochzeitssaris aus prachtvoller gelber Seide mit goldenen Stickereien aus dem Schrank. Die dazugehörige Bluse ist viel zu groß für den ausgemergelten Körper der jungen Frau, und Madan macht sie mit ein paar Abnähern enger. Auch den Sari macht er kürzer, und aus dem übriggebliebenen Stoff näht er der Frau ein Haarband.
Sie hören die bewundernden Seufzer, als sie die Treppe hinuntergeht. Witwe Sethi hofft, daß der Fischer noch nicht zu weit weg ist, denn die beiden würden ein schönes Paar abgeben. Sie holt den nächsten aus der Warteschlange in ihre Wohnung. Auch ein Fischer, der im Zyklon nicht nur seine ganze Familie, sein Boot und sein Haus verloren hat, sondern auch alle Schneidezähne.
»Oh, liebe Frau«, lispelt der Fischer, »machen Sie mich auch so schön.«
Witwe Sethi ist davon überzeugt, daß nicht mal der teuerste Anzug ihres Mannes ausreichen wird, um diese Bitte zu erfüllen, aber Madan beugt sich konzentriert über seine Maschine und näht.
Nachdem der Fischer ohne Schneidezähne stolz wie ein Pfau hinuntergeschritten ist, entsteht Unruhe auf der Treppe. Es geht das Gerücht um, daß nicht mehr genug Sachen da sind und nur noch die etwas bekommen, die ihre gesamte Familie verloren haben. Am Ende der Schlange wird erzählt, daß die Wohltäterin nicht nur sehr kostbare Kleider verschenkt, sondern auch die Taschen mit Geld füllt. Die Leute beginnen zu drängen und zu schubsen. Eine junge Witwe benutzt ihre Ellbogen, um eine Stufe höher zu steigen, und zwei Brüder, die
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