Warten auf den Monsun
eine kleine Werft besaßen, werfen einen konkurrierenden Schiffsbauer, der auch seinen Betrieb verloren hat, die Treppe hinunter. Der fällt auf eine junge Frau, die noch nie von einem Mann berührt wurde und laut schreit, worauf die Leute weiter unten meinen, die Verteilung sei beendet, während die Leute am Ende der Schlange glauben, daß man ihnen nicht nur Geld in die Taschen steckt, sondern daß sie zusammen mit den Kleidern auch gleich noch eine Anstellung bekommen. Auf der Straße ist die Schlange zu einer Menschenmenge angewachsen, die ins Haus drängt. Auf der Treppe werden Kinder totgetrampelt, aber auch über die Menschenknäuel hinweggehoben. Witwe Sethi versucht die Leute mit Überredungskraft und Argumenten zu beruhigen, aber als der nächste Mann wie ein Filmstar aus der Tür tritt, drückt sich die Menge an der Witwe vorbei in die Wohnung und stürzt sich auf die Kleider und die Schränke, um etwas zu ergattern.
Madan, der mit großer Konzentration eine taillierte Bluse enger näht, war die Unruhe auf der Treppe noch nicht aufgefallen, aber nun, wo die Menschen hereindrängen, ist seine erste Reaktion, die Nähmaschine zu schützen. Er beugt sich vor und legt die Arme um die Singer. Die Bedürftigen interessieren sich jedoch nicht für ihn oder für seine Nähmschine, sie haben es vor allem auf die Sari-Sammlung der Witwe Sethi abgesehen. Raffgierig reißen sie die farbenfrohen Stoffe aus dem Schrank. Immer mehr Leute zwängen sich ins Zimmer. Madan merkt, wie sich der Holzfußboden langsam durchbiegt. Er sieht, wie Hosen und Hemden zerrissen werden. Er hört Schreie, aber auch ein Knirschen. Die Schränke beginnen zu kippen. Aus seiner Kehle steigt ein Laut der Verzweiflung auf. Er schreit. Die wimmelnde Menge wird plötzlich still, alle sehen sich erschrocken nach dem brüllenden Löwen um, den sie erwarten, doch sie sehen nur einen Mann mit einer Nähmaschine in den Armen.
Dann kracht es laut, und der Fußboden stürzt ein. Staub, Splitter, Holzstücke, Menschen und Kleider, alles donnert hinab. Madan hört einen gellenden Schrei. Er hat diesen Schrei schon einmal gehört, vor vielen Jahren im Gefängnis, als Ibrahim, der Mörder, Herrn Patel an die Gurgel ging, weil ihm sein Gesicht nicht gefiel.
Die Autos mit heulenden Sirenen, die in den vergangenen Monaten oft ausrücken mußten, stehen vor dem, was einmal das Haus von Herrn Patel und Witwe Sethi war. Es ist nichts übrig als ein paar zerbrochene Balken und ein Haufen Dachziegel. Alle Kleidungsstücke haben sich die Überlebenden geschnappt, bevor die Polizei und die Krankenwagen eintrafen.
Mit seiner Nähmaschine steht Madan vor der Bahre mit Herrn Patels Leichnam. Patels Hand hat den Füller fest umklammert. Die Männer haben keine Eile. Die Sirenen haben sie abgestellt. Madan möchte weinen, aber es kommen keine Tränen. Er fühlt nichts mehr. Er sieht nur das blutige Gesicht des alten Mannes, den die Sanitäter in einen Krankenwagen schieben, während sie sich über die Ergebnisse eines Kricket-Wettkampfs unterhalten. Einer der Sanitäter nimmt aus dem Schutthaufen ein paar Blätter und legt sie über das geschundene Gesicht. Durch einen Riß in der Abbildung des Pantoffeltierchens sieht Madan noch immer den angstverzerrten Mund des Mannes, den er »Vater« genannt hat.
Alle sind fort, und eine bittere Stille liegt über der Straße. Nur Madan steht noch immer wie gelähmt mit der Nähmaschine unterm Arm vor dem eingestürzten Haus und blickt auf die beschriebenen Papierfetzen, die ziellos wegflattern.
»He, du da!«
Madan dreht sich langsam um.
In der Tür des Gemüseladens gegenüber steht der Händler und winkt ihm. »Komm mal her.«
Vor der Tür stehen große Kisten mit Äpfeln, die so glänzen wie der Apfel, den er einmal von dem Neffen von Herrn Patel bekommen hat. Zögernd geht er zu dem Gemüsehändler hin.
»Du kannst doch bestimmt sein Rad gebrauchen?«
Madan sieht ihn fragend an.
»Du bist doch sein Sohn, oder?« Der Mann eilt in den Laden und kommt mit einem alten Herrenfahrrad zurück. »Nimm es bitte mit, das Ding steht mir schon seit Jahren im Weg.«
1995
Rampur
Der Mond war fast voll und beschien die im Garten aufgestellten Eimer. Die Wolken, auf die Charlotte gehofft hatte, zeigten sich immer noch nicht. Trotzdem hielt sie nicht die Hitze vom Schlaf ab, sondern das, was an diesem Abend geschehen war.
Sie hatten erschöpft unten an der Treppe gestanden, als Isabella mit dem Topf ihres
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