Warten auf den Monsun
blicken auf die Hände des stark angespannten Chirurgen. Peter sieht, daß der Kehlkopf des Jungen weit mehr angegriffen ist, als er erwartet hatte. Er ist froh, daß er die Kraft gefunden hat, aufzustehen und die Sache durchzuziehen. Die Augenlider des Jungen zucken etwas. Peter schaut den Anästhesisten besorgt an, aber der zeigt ihm mit einem Nicken, daß alles in Ordnung ist. Warum zucken die Augenlider? Augenlider dürfen nicht zucken. Das Kind muß völlig ruhig daliegen. So kann er nicht operieren.
»Erhöh die Dosis«, zischt er.
»Es ist so in Ordnung«, sagt der Anästhesist.
Peter spürt den Schweiß in Bächen über seinen Rücken laufen. Sieht sein Kollege denn nicht, daß das Kind dabei ist, aufzuwachen, daß das Leben in den Körper zurückkommt, daß er noch nicht fertig ist, daß er noch lange nicht fertig ist mit der Operation? Seine Hände beginnen zu zittern. Der Anästhesist murmelt, daß es wirklich in Ordnung ist, daß es normal ist, daß sich Augenlider öfter bewegen. Peter umklammert das Skalpell, um seine zitternde Hand zu beherrschen. Es ist nicht normal, er hat es noch nie gesehen, er weiß, daß jemand, der bewußtlos ist, sich nicht mehr bewegt. Sie sind wie Tote, die nichts mehr spüren. Wie Leichen, die verwesen, die keine Schmerzen empfinden, wenn sie jemand tritt, die Kugeln empfangen, ohne es noch mitzubekommen, die aufgefressen werden von Insekten und Ungeziefer, die bewegen sich nicht, die können sich nicht bewegen.
Die Tür fliegt auf, die große Krankenschwester ruft, daß sie kommen sollen, Charlotte und Chutki sind schon im Operationssaal, während die Frau immer noch ruft. Der Anästhesist blickt verzweifelt auf die kleine Krankenschwester, die einen Verband um den Hals des noch bewußtlosen Jungen wickelt.
Peter steht zwischen ihnen, sein ganzer Körper bebt, und seine Augen starren in eine nicht vorhandene Ferne. »Es ist mißglückt«, murmelt er, »es ist mißglückt.«
Die kleine Krankenschwester hebt den Jungen von dem OP -Tisch aus Aluminium, die große Krankenschwester weint. Chutki will wissen, was passiert ist, aber keiner antwortet ihr. Der Anästhesist schiebt Peter aus dem Saal und zieht die blutigen Laken vom Tisch. Durch die offene Tür hallt noch immer die Stimme des Kricket-Reporters, der seine ganze Kultiviertheit abgelegt hat, vor Begeisterung spuckt und brüllt, da Indien der Sieg nun so gut wie sicher ist.
Die Krankenschwestern bereiten den Rolls-Royce für den Krankentransport vor, Chutki hat ihren Bruder in seinem blutigen Hemdchen Charlotte in die Arme gedrückt und ist auf der Suche nach einem funktionierenden Telefon, um ihren Vater zu informieren, daß die Operation mißlungen ist, der Anästhesist sitzt ihr betreten gegenüber, und Peter kauert zusammengesunken am Ende des Korridors. Charlotte sieht dem Jungen ins Gesicht. Bitte, wach auf , betet sie, bleib am Leben . Sie streichelt ihm übers Haar und blickt auf den Verband um seinen Hals. Ganz vorsichtig hängt sie ihm das Goldkettchen mit dem Familienwappen wieder um. Sie versucht, den Verband dabei nicht zu berühren. »Es wird alles wieder gut«, flüstert sie. Das Gefühl, das sie an diesem Tag schon einmal hatte, als er sie ansah, kommt zurück. Es ist etwas mit diesem Jungen . Sie erinnert sich wieder an die Klatschgeschichten im Palast, in denen es hieß, daß dieser Junge kein glückliches Leben haben würde, nur weil sie als weiße Frau durch einen Zufall den kleinen Kerl als erste sah. Sie denkt wieder an die kreischende Krankenschwester, die wütenden Frauen im Zenana und ihre vorwurfsvollen Blicke. Es muß alles wieder gut werden. Sie streichelt ihn und gibt ihm einen Kuß. Ich würde mein Leben für dich hergeben. Der Junge öffnet die Augen. Er blinzelt. Er sieht sie benommen an. Sie lächelt ihm zu. Es wird alles wieder gut, wirklich, ich verspreche es dir. Er lächelt zurück. Das Stadion explodiert. »India sindabad!« schreit der Reporter, der Arzt von der Notfallambulanz springt auf und tanzt wild herum. Es wird bestimmt alles wieder gut . Dann sieht sie, daß sich der Verband rot färbt. Die Wunde ist nicht gut genäht! Sie steht auf, will um Hilfe rufen, als ihr der Junge aus den Händen gerissen wird und die beiden Krankenschwestern mit ihm durch den Ausgang verschwinden.
Chutki verabschiedet sich noch nicht einmal von Charlotte, als sie in den Rolls-Royce einsteigt. Die beiden Krankenschwestern sitzen wie Wachhunde auf den Klappsitzen. Der kleine Junge liegt
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