Warten auf den Monsun
Schwester.
Der Junge macht ein enttäuschtes Gesicht.
Charlotte klingelt und bittet den Diener, Tee und ein Glas Mangosaft zu bringen. Der Junge lacht trotz des Hustenanfalls. Die Tochter des Maharadschas plappert weiter über die Unannehmlichkeiten einer langen Autofahrt und die Vorteile einer Bahnreise, als Charlotte hinterm Sofa beim Fenster einen Fuß sieht und sofort weiß, was los ist. Chutki hat ihren erschrockenen Blick nicht bemerkt, auch die Krankenschwestern nicht.
»Wir haben einen neuen Flügel«, sagt Charlotte und steht auf, »möchtet ihr ihn sehen?« Pausenlos weiterredend, schafft sie es, Chutki und ihren Bruder ins Gartenzimmer zu lotsen. Die Krankenschwestern rühren sich erst von der Stelle, als Charlotte ihnen verspricht, daß in der Küche auch Kekse zum Tee serviert werden.
Während Chutki den Stoff ihrer letzten Klavierstunde auf dem Flügel übt, huscht Charlotte zurück in den Salon und kniet sich hinters Sofa, wo Peter zwischen den Vorhängen kauert. Sie streichelt ihn sanft über den Rücken und merkt, daß er sich etwas entspannt. »Wenn du es nicht möchtest, schicke ich sie weg.«
»Nein«, klingt es fast unhörbar.
»Ich kann doch sagen, daß du krank geworden bist«, flüstert sie.
»Ich muß es tun«, sagt er mit gepreßter Stimme, »ich bin es dem Maharadscha schuldig.«
Sie schiebt den Vorhang ein kleines Stück von ihm weg. Aus dem Gartenzimmer klingt noch immer das ungeübte Klavierspiel. Ihre Hand fährt durch sein Haar. Sie sieht die grauen Strähnen, die vor kurzem noch nicht da waren. Er wimmert wie ein verletztes Tier, dessen Pfote in einem Fangeisen steckt. Aber um was sich bei ihm das Fangeisen geschlossen hat, weiß sie nicht, sie kann es nicht finden, sosehr sie auch danach gesucht hat. »Kannst du aufstehen?« Sie richtet sich auf und hilft ihm hoch, er erhebt sich langsam wie eine schlaffe Marionette. Dann erst sieht sie, daß der kleine Junge in der Tür steht.
»Hat der Doktor was verloren?« fragt er besorgt und spielt mit dem Goldkettchen, das um seinen Hals hängt.
»Ja, aber er hat es zum Glück wiedergefunden«, sagt sie und wünscht sich, eines Tages zu wissen, was er verloren hat.
Das Krankenhaus besteht anscheinend nur aus langen, hohen Korridoren, in denen kein Mensch zu sehen ist. Charlotte beschleicht ein unangenehmes Gefühl, das von dem Geräusch der Absätze der beiden Krankenschwestern noch verstärkt wird. Sie begreift nicht, warum jetzt sofort operiert werden soll, warum nicht bis morgen früh gewartet werden kann, aber Peter hat darauf bestanden. Er hat einen Anästhesisten angerufen, von dem er weiß, daß er Kricket haßt wie die Pest, und der hat gemeint, mit der Hilfe von zwei zusätzlichen Krankenschwestern sei es ein Kinderspiel.
Auch der betagte Arzt in der Notfallambulanz scheint kein Problem zu sehen. »Solange das Spiel läuft, wird bestimmt niemand krank«, scherzt er und dreht das Radio noch etwas lauter.
Die enthusiastische Stimme des Kricket-Reporters erfüllt den Warteraum: »India sindabad!«
»Hoffentlich gewinnt Pakistan nicht«, seufzt der alte Arzt, »sonst wird es hier nachher sehr voll.« Er schließt die Augen, lehnt sich im Stuhl zurück und hört sich gespannt weiter die Übertragung des Spiels an.
Peter, der Anästhesist und Chutki sind in den Operationssaal gegangen. Charlotte wartet auf dem Flur. Sie spielt mit dem Goldkettchen, das sie dem Jungen abgenommen hat, als er auf das fahrbare Bett gelegt wurde. Sie hat noch nie in einem Krankenhausflur gewartet. Plötzlich kann sie sich vorstellen, wie sich ein werdender Vater fühlen muß, wenn seine Frau das erste Kind bekommt. Im Hintergrund ist die Stimme des Sportreporters mit dem jubelnden Publikum im Stadion zu hören.
»Der Doktor hat sich verändert«, sagt Chutki, die sich neben sie setzt und ihre Jacke fester um sich zieht.
Charlotte würde gern sagen können, daß das nicht so ist und daß er zufällig einen schlechten Tag hat, nur weiß sie nicht mehr, wann er zum letzten Mal einen guten Tag hatte.
»Will er keine Kinder?« fragt Chutki vorsichtig.
Charlotte wünscht sich, sie wäre zu Hause geblieben, sie haßt diese Fragen. Kapiert die Tochter des Maharadschas denn nicht, daß sie mit ihm nicht darüber reden kann, sie traut sich nicht mehr, sie weiß, daß sie keine Antwort bekommt, daß er sich zusammenrollen wird zu einem Fötus, taub und stumm für seine Umgebung.
Es ist still im Operationssaal, der Anästhesist und die Schwestern
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