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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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spritzen lassen kann, aber der Mann blafft nur etwas in einer Sprache, die er nicht kennt. Madan wird weggezogen und von den Tausenden Beinen mitgerissen. Seine Schwester sieht er nirgends mehr.
     
    Die Menschenmenge zerstreut sich. Die Männer verschwinden in den Nebenstraßen, und das Geschrei verebbt. Wieder sieht Madan ein Auto fahren, und eine Pferdedroschke. Er ist müde und hat Schmerzen. Auf der anderen Straßenseite sitzt ein Junge unter einem Baum und trinkt aus einer Flasche. Madan überquert die Straße, ohne aufzupassen. Ein Autofahrer hupt wütend. Madan hört es nicht. Er sieht nur den trinkenden Jungen. Er stellt sich vor ihn und zeigt auf die Flasche.
    Der Junge, nicht viel größer und älter als Madan, schaut zu ihm hoch. »Was willst du?«
    Madan bleibt stehen.
    »Hau ab.« Der Junge trinkt noch einen Schluck. »Verschwinde, hab ich gesagt.«
    Madan rührt sich nicht vom Fleck.
    Der Junge trinkt wieder einen Schluck. »Brauchst du erst einen Tritt?« Der Junge mustert den Knirps, der reglos vor ihm steht und dessen Hemd voller Blutspritzer ist. Er hat eine Wunde unterm Kinn mit einem Verband darum, zwischen dem etwas glitzert. Er trägt keine Hose und ist barfuß. Seine Lippen sind trocken, und seine dunklen Augen blicken ängstlich.
    »Willst du einen Schluck?«
    Madan nickt.
    »Aber dann hau endlich ab.« Der Junge reicht ihm seine Flasche, und Madan trinkt gierig. »He, nicht alles.«
    Madan trinkt weiter.
    »Du hast doch gehört, was ich sage?« Der Junge reißt ihm die Flasche aus der Hand. »Bist du taub?«
    Madan schaut traurig auf die halbvolle Flasche in der Hand des Jungen, der nun weggeht.
    Als der Junge über die Schulter blickt, sieht er, daß Madan ihm nachläuft. »Verschwinde«, sagt er wieder und macht eine wegscheuchende Geste, um seinen Worten Nachdruck zu geben.
    Madan bleibt kurz stehen, aber als der Junge weitergeht, folgt er ihm wieder. Der Junge überquert die Straße, Madan auch. Er bemüht sich, die schmerzende Wunde nicht zu spüren. Mit seinen kurzen Beinchen steigt er über Schlaglöcher, springt über eine Abwasserrinne in einer schmalen Gasse und muß über eine kleine Mauer klettern. Er merkt, daß die Wunde wieder zu bluten anfängt.
    Am Eingang eines Parks bleibt der Junge stehen. Madan geht langsam auf ihn zu. »Hast du noch immer Durst?« fragt der Junge.
    Madan nickt. Der Junge gibt ihm die Flasche, und er trinkt japsend.
    »He, laß mir noch was übrig.«
    Madan gibt ihm die Flasche zurück.
    Der Junge trinkt den kleinen Rest und fragt: »Wie heißt du?«
    Madan antwortet nicht.
    »Wenn du mein Freund sein willst, mußt du mir sagen, wie du heißt.«
    Madan beginnt zu husten und stößt ein paar heisere Laute aus. Er zeigt auf die blutende Wunde unter seinem Kinn. Der Junge sieht ihn fragend an. Madan versucht es wieder, aber er kann nur ächzen und bringt kein verständliches Wort hervor.
    »Kannst du nicht sprechen?«
    Madans Augen füllen sich mit Tränen.
    »Heulst du jetzt los?«
    Madan schüttelt den Kopf.
    »Na, heul ruhig, du bist ja noch ein Kind.«
    Madan sieht den Jungen wütend an, schüttelt den Kopf und streckt die Finger hoch.
    »Du bist sechs.«
    Madan nickt stolz.
    »Ich bin schon acht.« Der Junge setzt sich unter einen großen Baum und macht seinem neuen Freund ein Zeichen, daß er sich zu ihm setzen soll. Zusammen schauen sie den Jungs zu, die ein Stück weiter Kricket spielen.
    »Ich heiße Samar, und dich nenne ich Mukka.« Er sieht Madan an. »Einverstanden?«

1995
Rampur
     
     
     
    Charlotte drehte den Beutel mit dem Stoff über dem Couchtisch um. Bei der leisesten Berührung zerfiel der Stoff, der einmal, vor sehr langer Zeit, für ein Ballkleid bestimmt gewesen war. Peter hatte ihr damals versprochen, endlich mit ihr tanzen zu gehen, denn bei jedem Fest, zu dem sie eingeladen waren, hatte er immer im letzten Moment einen dringenden Grund gefunden, warum er nicht hingehen konnte – ein Notfall im Krankenhaus, ein Patient mit unerwarteten Blutungen, der im Sterben lag, er mußte überraschend nach Bombay, oder er hatte plötzlich schreckliche Bauch- und Kopfschmerzen. Einmal war sie so wütend geworden, daß sie sich ein Taxi genommen hatte und allein hingegangen war, aber die Klatschgeschichten, die danach die Runde machten, waren so bösartig und gemein, daß sie von da an seine Ausflüchte akzeptiert hatte und zu Hause geblieben war.
    Sie stopfte die Überreste wieder in den Beutel. Das, worin sie in ihren Träumen einmal hatte

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