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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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nicht gedacht hatte …! Der älteste Sohn des Milchmannes war auch stumm, zusammen mit seinem Bruder fuhr er die Milch aus. Es war ein hoch aufgeschossener Junge, der, um sich mitzuteilen, ganz hohe, tierische Laute ausstieß. Lange hatte sie geglaubt, er sei geistig zurückgeblieben, bis er ihr eines Tages half, das Auto zu starten, als es wieder einmal streikte. Von einem geistig zurückgebliebenen langen Lulatsch hatte er sich auf einmal in einen gewitzten, taubstummen Jungen verwandelt, der mit ein paar Handgriffen unter der Motorhaube ihren Wagen wieder in Gang gebracht hatte. Sie hatte sich geschämt und ihm ein besonders großzügiges Trinkgeld gegeben.
    Charlotte zog an der Glocke über ihrem Kopf.
    Hema kam mit einer Tasse Kaffee ins Zimmer.
    »Wußtest du, daß er nicht sprechen kann?«
    »Wer, Memsahib?«
    »Der neue Darsi.«
    »Nein, Ma’am, er sagt ja nie was.«
    »Danke für den Kaffee.«
    Sie schickte ihn weg. Heute ging ihr jeder auf die Nerven.
     
    Daß sie auf den Dachboden gegangen war, sollte Hema nicht mitbekommen; so geräuschlos wie möglich stöberte Charlotte zwischen ramponierten Stühlen und zerrissenen Kartons. Irgendwo war noch ein Beutel mit einer Stoffbahn, das wußte sie genau. Alles, was einen echten Wert besaß, hatte der erste Altwarenhändler schon herausgesucht. Sie wäre damals nie auf die Idee gekommen, daß er nicht der letzte sein würde.
    Es war der Monat gewesen, in dem der Zyklon über Andhra Pradesh raste und mehr als zehntausend Menschen das Leben nahm, nun auch wieder Jahre her. Sie hatte im Radio gehört, wie die ärmlichen Hütten weggeweht wurden und Flüsse über die Ufer traten. Überall trieben Leichen, dazwischen wateten die Menschen und trugen ihre letzten Habseligkeiten auf dem Kopf. Ihr Dachboden war voller Sachen, die niemand mehr benutzte. Zuerst wollte sie sie verschenken, bis der Mann von der Bank mit dem Brief gekommen war, der alles verändert hatte. Seitdem öffnete sie alle Kuverts, und sie kümmerte sich um die Rechnungen. Auf den Rat des Mannes von der Bank war ein Händler gekommen, der alles mögliche mitgenommen hatte. Erst vom Dachboden, später auch aus den Zimmern im ersten Stock, und schließlich aus dem Erdgeschoß. Sie hatte eine Meisterschaft darin entwickelt, Möbel und Gegenstände umzustellen, um die leeren Plätze zu füllen. Sie wußte, daß man sich an alles gewöhnen konnte. So spielte sie noch dann und wann, wenn niemand es sehen konnte, Schubert oder Mozart. Sie legte die Finger auf den Rand eines Tisches und schloß die Augen. Sie spielte und hörte die Musik in ihrem Kopf und empfand dabei Trost.
    Sie schob zwei Kisten auseinander und entdeckte den Beutel mit dem Stoff. Er war noch da!

1952
Bombay
     
     
     
    Überall sind Männer, die »India sindabad! India sindabad!« schreien. Madan schaut sich suchend um, er weiß nicht, wo die anderen geblieben sind. Eben waren sie noch da. Um sich herum sieht er nur Beine von Männern, die in alle Richtungen laufen. Keiner kümmert sich um ihn. Dann sieht er das Blau der Jacke seiner Schwester. Er versucht dorthin zu gehen, doch das Blau verschwindet zwischen den Männerbeinen. Jedesmal, wenn er glaubt, jemanden zu sehen, den er kennt, stößt ihn ein johlender Mann beiseite. Er hat Schmerzen. Die unbekannten Beine schieben ihn voran. »India sindabad!« Er weiß nicht, in welche Richtung er geht. Er will zurück. Er will zu seiner Schwester. Er torkelt auf seinen kurzen Beinchen. Alles tut ihm weh. Ein dicker Mann in einem braunen Longhi geht an ihm vorbei. Die breite Gestalt und der langsame Schritt ziehen Madan zu dem Mann hin. Er fühlt sich sicher hinter dem großen Mann, der nach Pferden riecht. Ohne daß der Mann es merkt, folgt der kleine Junge ihm. Dann bleibt der Mann stehen und beugt sich vor. Madan drückt sich an ihn. Die ausgelassen jubelnde und tanzende Menge macht ihm angst. »India sindabad!« Madan sieht, daß der Mann Wasser trinkt, von einer kleinen Fontäne, die aus einem Pfosten sprudelt. Er hat auch Durst. Als der Mann weitergeht, versucht Madan zu trinken, aber er reicht nicht heran. Er streckt die Hand aus und fängt ein paar Tropfen auf, leckt sie von der Hand ab. Er will noch mehr Wasser, aber er wird weggedrängt. Er dreht sich um, doch der dicke Mann im braunen Longhi ist verschwunden. Ein Mann mit einem schwarzen Bart hält nun den Mund über den Strahl. Er schaut ihn an und hofft, daß der Mann ihn hochhebt, damit er sich auch das Wasser in den Mund

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