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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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kleine Finger fehlt.
    Jetzt ist es der alte Mann, der bleich wird.
    »Möchtest du ein Stück Roastbeef?« flüstert sein Schwiegersohn, und er reicht ihm mit zitternder Hand die Schüssel mit den Fleischscheiben.
    Victor kann den Blick nicht von Peters verstümmelter Hand lösen.
    »Es ist wirklich gutes Fleisch, Vater«, sagt Charlotte, als sie sieht, daß ihr Vater nicht zugreift.
     
    ***
     
    Lieber Donald,
    ich wünsche Dir einen tollen Geburtstag und hoffe, daß es dieses Jahr endlich klappt und Du in den Ferien kommen kannst. Ich habe mit Vater wieder darüber gesprochen, aber er meint, daß Du in der Schule zu viel versäumst, wenn Du zwei Monate zusätzliche Ferien hast. Ich habe ihm gesagt, daß viele Kinder mit Eltern in Indien länger Ferien bekommen, aber er fand die Idee trotzdem nicht gut. Ich lasse aber nicht locker, es ist doch auch nicht gut, wenn man seine Familie nie sehen kann. Wenn wir mal Kinder haben, werde ich sie garantiert nicht in ein Internat schicken. Nicht mal, wenn es sehr unartige Kinder sind. Hier in Delhi ist alles viel größer als in Rampur. Die Straßen sind breit und die Häuser sehr hoch. Läßt Du mal ein Foto von Dir machen? Ich denke, daß Du es vergessen hast. Ich lege etwas zusätzliches Geld in diesen Brief, ein Teil ist für Deinen Geburtstag und ein Teil für das Foto. Ich würde Dich so gern wieder einmal sehen. Ich denke, daß Vater sich auch freuen würde, also laß gleich zwei Abzüge machen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie Du jetzt aussiehst. Als ich wegging, warst Du ein Jahr alt, und jetzt bist Du schon dreizehn! Vielleicht erkenne ich Dich nicht mal, wenn ich Dich abhole! Auch deshalb hoffe ich, daß wir uns bald wiedersehen.
    Deine Schwester Charlotte.

1995
Rampur
     
     
     
    Die Frau von Adeeb Tata hatte mit dem Bügelbrett eine Liste zurückgelassen, auf der die Namen all der Frauen standen, die die Dienste des neuen Darsi in Anspruch nehmen wollten. Ganz oben auf der Liste stand natürlich die Frau von Nikhil Nair. Charlotte wußte, daß sie die Liste aufgestellt und an die Frau von Adeeb Tata weitergegeben hatte.
    Sie klingelte nach Hema und bat ihn, ihr den Schneider zu schicken.
     
    Er stand an der Tür, den Kopf leicht gesenkt. »Wie heißt du?« fragte sie.
    Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und reichte sie ihr. Charlotte hatte noch nie von einem Schneider gehört, der beim Kennenlernen eine Visitenkarte zückte. Altwarenhändler, Angestellte der Kreditbank und Geschäftsleute hatten Karten, aber Handwerker doch nicht. Es war eine einfache Karte mit dem Aufdruck:
     
    MUKKA – SCHNEIDER
     
    »Mukka. Ist das dein Name?«
    Madan nickte.
    »Kannst du lesen?« Sie hielt es für eine dumme Frage, ein Schneider mit Visitenkarte kann natürlich lesen.
    Madan schüttelte den Kopf.
    »Das macht nichts«, sagte Charlotte, erleichtert, daß endlich etwas normal war an diesem Mann. Sie nahm die Liste und las vor. »Du fängst bei Frau Nair an, sie wohnt hinterm Rathaus in einem großen Haus mit einer roten Tür. Dann gehst du zu Frau Singh, sie wohnt zwei Straßen hinter Frau Nair. Vor ihrem Haus steht immer ein alter Ambassador mit ihrem Chauffeur. Danach gehst du zu …«
    Madan hörte die warme, sanfte Stimme der Frau. Er wußte nicht, wie sie hieß, denn sie hatte sich nicht vorgestellt. Durch seine Wimpern lugte er in ihr Gesicht, sie hatte eine Lesebrille aufgesetzt und befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze, während sie die Liste vorlas.
    Da war es wieder – seine erste Erinnerung, die in den seltsamsten Momenten zurückkam. Lange hatte er es nur für einen Traum gehalten, doch die Gefühle und Bilder, die er vor sich sah, waren so lebensecht, daß er irgendwann die Überzeugung gewonnen hatte, sie gingen auf ein reales Erlebnis zurück. Er hatte Schmerzen gehabt, erinnerte er sich, sehr große Schmerzen, und er war eingeschlafen. In dem Moment, als er erwachte und die Augen öffnete, hatte er in das Gesicht einer weißen Frau geblickt, einer sehr schönen Frau, wie eine Prinzessin hatte sie ausgesehen. Er spürte ihre warmen Arme um sich, und mit ihren roten Lippen hatte sie ihn geküßt. Sie hatte nach Jasmin geduftet.
    »Kannst du dir das alles merken?« fragte Charlotte.
    Madans Tagtraum verflüchtigte sich. Er hatte nichts vom Rest der langen Liste mitbekommen und keine Ahnung, wohin er gehen sollte. Trotzdem nickte er.
    »Du fängst bei Frau Nair in dem Haus mit der roten Tür an, zeig ihr die Liste, dann hilft

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