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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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seine Männer, wenn sie allein damit fertig werden. Wenn sie demnächst einem Japs gegenüberstehen, werden sie sich an die Sache erinnern, als sei es ein Kinderspiel gewesen. Auf einmal wird die Autotür, an die er sich lehnt, von außen geöffnet. Er fällt fast aus dem Jeep und kann sich gerade noch am Rand des Sitzes festhalten, sein Cane fällt auf den Boden des Autos. Er will wütend losbrüllen, als er sieht, daß ein junges Mädchen die Tür aufgemacht hat. Obwohl sie ausgemergelt ist und ihre Augen tief in den Höhlen liegen, ist ihre aufblühende Schönheit noch nicht ganz verloren. Sie hebt die Hand zum Mund, um ihm zu zeigen, daß sie Hunger hat. Victor weiß, daß die Kiste, die hinter ihm steht, bis zum Rand gefüllt ist mit Fleischkonserven, Bohnen, Mehl und sogar Schokolade und Kaffee. Die Kiste zu öffnen, hätte zur Folge, daß sie und ihre Dorfgenossen sich auf das Auto stürzen würden und von ihm und dem Jeep wahrscheinlich wenig übrigbliebe. Er weiß, daß er das Mädchen wegstoßen und die Tür wieder zuziehen muß, aber etwas in ihrem Blick hindert ihn daran. Das Mädchen bemerkt sein Zögern und lächelt schüchtern. Er sieht, daß ihre Zähne noch tadellos sind. Wieder macht sie die Geste des Essens. Victors Hand gleitet unmerklich in seine Jackentasche und ertastet zwischen ein paar Münzen und einer Schachtel Steichhölzer ein Bonbon. Er will dem Mädchen das Bonbon geben, überlegt es sich dann aber anders. Ihr das Bonbon zu geben ist genauso gefährlich, wie die Kiste zu öffnen. Seine Hand schließt sich um die Süßigkeit. Das Mädchen streckt ihm die Handfläche entgegen und sieht ihn flehend an. Er umschließt das Bonbon noch fester. Ihre bettelnde Hand kommt ins Auto. Er riecht das Mädchen, ein leicht säuerlicher Geruch entströmt ihrem Mund. Ihre Haut ist trocken und um die Lippen etwas geschuppt. Die Hand des Mädchens sinkt langsam zu seinem Schoß. Ihm wird warm. Ich muß die Wagentür zumachen! Sie muß weg! Sie legt die Hand auf seinen Hosenschlitz. Der Schweiß bricht ihm aus. Er will die Hand aus der Hosentasche ziehen, ihr das Bonbon geben und die Tür zuknallen, aber er spürt, daß das Bonbon an seiner Hand klebt und sich nicht lösen will. Ihre Hand drückt leicht auf sein Glied. Er beginnt schneller zu atmen. Draußen ertönt Gebrüll. Dann kracht ein Schuß, und noch einer, und noch einer. Die Menschen stieben auseinander.
    »Abhauen!« wird in Panik gerufen.
    Victor zieht die Hand aus der Tasche und stößt das Mädchen weg. Sie sieht das Bonbon, das an seiner Hand klebt, und versucht es sich zu schnappen. Einer der jungen Offiziere schlägt ihr mit dem Gewehrkolben ans Kinn. Das Mädchen geht zu Boden. Victor will das Bonbon von seiner Hand abschütteln. Auf sie, vor sie, aber die Autotür wird zugeschlagen. Die Soldaten springen in die Wagen und brausen davon. Victor sieht auf das klebrige Bonbon in seiner Hand. Das Mädchen muß so alt sein wie Charlotte, die er nun schon über sechs Jahre nicht mehr gesehen hat. Er schüttelt unwirsch den Kopf. Diesen Gedanken schiebt er schnell wieder weg.
    »Zwei Tote, Major Bridgwater«, ruft der junge Offizier, »zwei Tote, aber es war Notwehr, das haben Sie ja gesehen? Sie haben es doch gesehen?«
    Victor steckt sich das Bonbon in den Mund, nickt und bückt sich, um den Cane aufzuheben.

1968
Rampur
     
     
     
    Lieber Donald,
    im Namen von Vater soll ich mich für den Rollstuhl bedanken, den du geschickt hast. So ein praktisches Gerät können wir hier nicht kaufen. Du hast natürlich gehört, daß wir eine Entscheidung getroffen haben. Vater fiel es nicht schwer, mir dagegen schon. Für ihn war es keine Frage, daß wir auch künftig hier in Rampur leben. Ich habe mich schließlich auch dafür entschieden, und nun sind wir also beide offiziell indische Staatsbürger. Das erspart einem wenigstens eine lange Bahnfahrt, wenn man einen Reisepaß braucht, dafür mußte ich seinerzeit noch zur Botschaft in Neu-Delhi. Eigentlich habe ich mich nie als Engländerin gefühlt. Du fühlst dich als Brite, oder? Das liegt daran, glaube ich, daß Du nach der Schule in England geblieben bist. Und nun, wo Du mit Patricia verheiratet bist, wirst Du wahrscheinlich nie mehr hier leben. Ich habe die Hochzeitsfeier sehr genossen. Was für eine große Familie sie hat! Ich bin so froh, daß ich dabei war. Patricias Kleid war unvergeßlich. Die Rosen um ihren Hals, so schön! Wirklich schade für Vater, daß er nicht mitkonnte. Er wäre zum

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