Warten auf den Monsun
Flüchen, nach einer Lösung. Das einzige, was ihm einfällt, ist: »Ich habe schlechte Augen.«
»Dann kaufen Sie sich eine Brille.«
»Dafür habe ich kein Geld.«
»Daran ist das Kind nicht schuld.« Bruder Franciscus von der St.-Thomas-Kongregation nimmt Madan bei der Schulter. Er hat den Jungen vorher nie richtig sehen können, weil er immer tief in der Kiste hockte. Ihm fällt auf, daß es ein hübscher Junge ist, die Stellung seiner Augen, der breite Mund, die gerade Nase und das lockige Haar, nur die entzündete Wunde unterm Kinn ist abstoßend. Der Mönch lächelt, aber Madan traut sich nicht, die weiße, ausgestreckte Hand zu fassen.
»Sehen Sie, er will nicht.«
Der Mönch hockt sich vor Madan und versucht, seinen Blick einzufangen. »Du brauchst keine Angst zu haben, in unserem Haus wohnen viele Jungs wie du, manche sind etwas älter, andere jünger. Jeder hat sein eigenes Bett, und wir haben eine Schule, wo du lesen und schreiben lernen kannst.«
»Er ist stumm«, sagt Ram Khan als letzten Versuch, ihn zu behalten.
Der Mönch richtet sich, nachdem er Madan noch einmal besonders freundlich zugenickt hat, wieder an den Schneider. »Wir gehen.« Er nimmt Madans Hand und zieht ihn vorsichtig hoch.
»Er schuldet mir noch Geld«, murrt Ram Khan.
»Wofür?«
»Für seine Kleider, für das Essen und für sein Zimmer.«
Der Mönch zieht einen Geldschein aus der Tasche und gibt ihn dem Schneider. »Danke dem Herrn«, sagt er und zieht Madan mit sich auf die Straße.
Ein paar Straßen weiter, wo der Basar aufhört, bleibt der Mönch stehen, zieht nervös einen Kamm aus der Tasche, beugt sich vor und kämmt Madan die Haare.
Madan muß plötzlich an seine Schwester denken. Er lächelt.
Sie gehen durch ein Tor auf den Innenhof eines Gebäudes, das drei Stockwerke hat. Madan, dessen Haare nun streng gescheitelt sind, macht Stielaugen. Überall sind Jungen in kurzen weißen Hosen und weißen Hemden. Manche spielen Kricket, andere reden miteinander oder rufen etwas aus einem Fenster, und einer liegt unter einem Baum im Schatten und schläft. Zwischen den Kindern gehen Männer umher, die so gekleidet sind wie Bruder Franciscus.
Der Mönch hat die ganze Fahrt in der Rikscha kein Wort gesprochen, aber versucht, Madan durch Gebärden deutlich zu machen, daß er dem Chef Geld gegeben hat, daß Madan also keine Angst mehr vor dem Schneider zu haben braucht, und daß er, Bruder Franciscus, gut für ihn sorgen wird.
Hand in Hand gehen sie in einen Saal mit langen Tischen. Bruder Franciscus gibt dem kleinen Jungen zu verstehen, daß er sich hinsetzen soll. Aus der Küche holt er einen Teller mit Essen und stellt ihn vor Madan hin. Fasziniert sieht der junge Missionar zu, wie Madan den kalten Reis mit Dhal hinunterschlingt, als hätte er Angst, daß ihm der Teller gleich wieder weggezogen würde.
Nach dem letzten Bissen sieht Madan, daß ein zweiter Mönch dazugekommen ist, einer mit einem Bart. Er hört, wie Bruder Franciscus dem anderen erzählt, daß er ihn auf dem Basar bei einem Schneider gefunden und daß der ihn in eine Kiste eingesperrt habe. »Das arme Kind ist taubstumm!« sagt Bruder Franciscus mit dramatischer Stimme.
Der Mönch mit dem Bart setzt sich ihm gegenüber an den Tisch. Er zeigt auf seine Brust und sagt ganz laut: » ICH BIN BRUDER JOHANNES. ICH BIN VON DER SCHULE .« Er dreht sich zu Bruder Franciscus um und seufzt: »Wie kann man ›Schule‹ in Gebärdensprache ausdrücken?«
»Er hat bestimmt keine Ahnung, was eine Schule ist, also laß ruhig. Ich muß erst mit ihm zu Bruder Augustinus, noch mehr Krankheiten im Haus können wir im Augenblick nicht brauchen.« Er streckt die Hand aus, und Madan legt seine kleine Hand hinein.
Die große warme Hand führt ihn weiter in das Haus hinein, vorbei an geräumigen Zimmern mit Tischen und Stühlen, mit Regalen voller Bücher und Schautafeln mit Abbildungen von Tieren.
Hinter einer großen Tür sitzt Bruder Augustinus, auf seiner Nase ruht eine Brille mit dicken Gläsern. Auf einem Wandbord hinter ihm stehen lauter Schädel und tote Tiere in Flaschen.
»So, ein neuer«, klingt es fröhlich, als sie eintreten.
»Er ist taubstumm«, sagt Bruder Franciscus.
Bruder Augustinus’ Augen funkeln, bei jedem neuen Kind, das ins Haus kommt, sieht er die Aufgabe, die ihn erwartet, nicht nur physisch und intellektuell, sondern vor allem spirituell. Wenn dieser kleine Junge in einem Jahr Gott den Herrn als seinen Hirten ansieht, wird seine Zukunft
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