Warten auf den Monsun
stand mitten in der großen Halle und schaute nach oben. Auf dem Dachboden war nichts, dort hatte sie schon gründlich gesucht, auch ihr Schlafzimmer, das Klavierzimmer, das Eßzimmer und den Salon hatte sie durchstöbert. Das frühere Arbeitszimmer ihres Vaters war bis auf eine Federkernmatratze leer. Auch das blaue Zimmer, das jahrelang als Gästezimmer gedient hatte, war komplett ausgeräumt. Ihr Blick glitt zur Tür des einzigen Zimmers, das noch übrig war, des Kinderzimmers, aber dort konnte sie erst nachsehen, wenn der Monsun anbrach und sie das Zimmer mit dem undichten Dach notgedrungen würde räumen müssen. Wenn der Monsun überhaupt anbrach. Wo blieben die Wolken und der Wind? Alles lechzte nach Abkühlung, die Pflanzen, die Vögel, die ganze Stadt.
Die Tür flog auf, und Hema stürmte in die Halle. Sie hatte gar nicht gewußt, daß er sich so schnell bewegen konnte.
»Was ist denn los?«
»Er … der Mann … er ist …« Hema rang nach Luft.
»Er ist was?«
»Memsahib, schrecklich, furchtbar, er …«
»Was ist passiert? Jetzt sag schon!«
Hema breitete die Arme aus und verdrehte dramatisch die Augen nach oben. Charlotte folgte seinem Blick.
»Nein, Memsahib, in der Küche …«
»Ist er verletzt?«
»Nein, schlimmer.«
»Er ist doch nicht …?«
»Er … er schüttet Zucker auf ein Kleid!«
»Er tut was?«
»Der Darsi schüttet Zucker auf ein Kleid. Zucker ist teuer. Der Zucker ist fast alle. Der Zucker ist nur für Tee und Joghurt für den Sahib. Nicht für ein Kleid. Der Zucker gehört der Küche! Der Zucker …«
»Jetzt mal ganz ruhig …« Sie hatte Hema erst einmal in so einer Verfassung erlebt, und das war, als er im Schuppen einen Dieb auf frischer Tat ertappt hatte.
»Da!« Hema zeigte wütend zur Tür. Auf der Schwelle stand der Schneider. Ein leicht süßlicher Geruch kam mit ihm in die Eingangshalle.
»Was ist los?« fragte sie Madan.
»Er schüttet Zucker auf ein Kleid!« wiederholte Hema seine Anschuldigung.
»Stimmt es, daß du Zucker auf ein Kleid gestreut hast?«
Madan nickte.
»Also bitte, Memsahib, ich habe nicht gelogen, ich lüge nie«, stieß Hema hervor.
»Warum machst du das?« setzte Charlotte ihr Verhör fort.
Das muß sein für diejenige, die es tragen wird.
»Benutzt du den Zucker als eine Art Stärke?« Sie gab ihm schon die Antwort vor.
Nein, im Gegenteil, das macht den Stoff weich.
»Siehst du, er nimmt den Zucker, um das Kleid zu stärken. Dann knittert es nicht so schnell«, sagte sie beschwichtigend zu Hema.
»Aber Memsahib, unser Zucker …«
Madan schüttelte den Kopf. Ich habe selber Zucker gekauft. Er lief zurück in die Küche und kam kurz darauf mit einer kleinen Tüte Zucker wieder.
»Ist das der Zucker aus der Küche?« fragte Charlotte Hema.
Er sah auf die Tüte und schüttelte den Kopf. »Aber er hat dieselbe Farbe.«
»Das hier ist der Zucker vom Darsi. Es war sehr aufmerksam von dir, daß du dir Sorgen gemacht hast, aber du siehst, es ist alles in Ordnung. Du kannst unbesorgt wieder in die Küche gehen.«
»Zucker auf ein Kleid! Zucker gehört in den Tee«, brummelte Hema, bevor er geräuschvoller als sonst in Richtung Küchenhaus verschwand.
Oben auf dem Treppenabsatz schlug die Uhr eins. Dann wurde es still. So still, daß Charlotte noch hören konnte, wie Hema draußen herumgrantelte. Madan stand mit seiner Tüte Zucker mitten in der Halle und machte keine Anstalten zu gehen.
»Ist noch was?« fragte sie.
Du hast den Stoff noch nicht gefunden.
»Ich habe heute nach einem Stoff für mein Kleid gesucht. Ich war mir sicher, daß irgendwo noch wunderschöne Stoffe liegen müssen, aber ich kann sie nicht finden.«
Rote Seide würde dir sehr gut stehen.
»Ich dachte eigentlich, irgendwo müßte noch eine Bahn italienischer Seide sein, von meiner Mutter, aber vermutlich ist der Stoff im Laufe der Zeit einfach verschwunden.« Charlotte wollte, daß er blieb, fühlte sich jedoch hoffnungslos unbeholfen bei ihrem Versuch, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der nicht sprechen konnte.
Du verstehst mich. Hab keine Angst. Du hörst alles, was ich sage.
Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel dröhnte es plötzlich von oben: »Zucht und Ordnung!«
Charlotte blickte direkt in die Augen ihres Vaters, der sich über das Geländer des Treppenabsatzes beugte und nach unten rief: »Regeln! Die sind nicht umsonst da!«
Charlotte stürmte die Treppe hoch. »Vater! Vater! Warum bist du nicht in deinem Zimmer?«
»Regeln, daran
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