Warten auf den Monsun
ersten Mal in England gewesen. Wer weiß, wenn er irgendwann gut mit dem Rollstuhl zurechtkommt, kommt er vielleicht einmal mit dem Flugzeug, das Reisen ist heutzutage ja viel einfacher. Ich komme mir wie eine alte Frau vor, so wie ich jetzt schreibe, aber es war phantastisch, so schnell in einem anderen Land zu sein, und die Stewardessen waren furchtbar nett. Wie war Eure Hochzeitsreise? Portugal muß ein sehr schönes Land sein. Schickt Ihr Fotos? Hier geht sonst alles seinen Gang. Wir hatten viel Ärger mit roten Ameisen im Salon. Du weißt schon, das große Zimmer neben dem Haupteingang. Hatte ich Dir schon geschrieben, daß Vater ein neues Sofa gekauft hat? Es ist genauso rot wie die Ameisen, darum habe ich sie zuerst nicht gesehen. Es gibt ein ganz fieses Gift, das von einem Fachmann für so was versprüht wird. Wir konnten eine Woche lang nicht ins Zimmer, aber seitdem habe ich keine Ameise mehr gesehen. Außerdem haben wir einen neuen Koch, der alte Bobajee hatte immer öfter schwere Malaria-Schübe, er sagt, er hätte es sich im Krieg geholt, aber ich glaube, er hat es von hier, immer mehr Leute kriegen es, weil fast keiner unter einem Moskitonetz schläft. Wir passen sehr gut auf. Erinnerst Du Dich noch an den Apfelbaum, den wir gepflanzt haben, als Du hier warst? Dieses Jahr trägt er zum ersten Mal. Der neue Koch hat einen Apfelkuchen gebacken, roh sind sie zu sauer. Ich muß jetzt schließen, Vater will gleich in den Club, und ich muß ihn fahren, weil der Chauffeur seine Verwandten besucht.
Alles Liebe, auch für Patricia
Deine Schwester Charlotte
1953
Bombay
Madan zieht zum zigsten Mal an diesem Vormittag die Beine wieder in die Kiste. Es wird immer unbequemer, in dem engen Gehäuse zu arbeiten, nicht, weil die Hitze es unmöglich macht, sondern weil er wächst. Er hat das vor ein paar Wochen seinem Chef klarzumachen versucht, aber der rief, er habe seine Schulden immer noch nicht abgezahlt und außerdem wachse die Rechnung weiter an, weil er jeden Tag den Topf leer esse. Die braune Hose, an der er den Saum auftrennen muß, wird ständig eingeklemmt, und Madan muß sich wie ein Aal winden, um überhaupt arbeiten zu können. Ohne daß es ihm bewußt ist, rutschen seine Beine wieder aus der Kiste. Ram Khan, dem nichts entgeht, nimmt den Stein, der immer neben ihm liegt, und läßt ihn auf Madans nackten Fuß fallen. Mit einem heiseren Schrei zieht Madan den Fuß in die Kiste zurück.
»Noch ein einziges Mal, und ich hacke dir das Bein ab.«
»Gott der Herr spricht: So dich dein Bein ärgert, so haue es ab – aber es ist nicht das Kind, das von dem Bein geärgert wird, sondern Sie. Gott hat niemandem das Recht gegeben, einem anderen Menschen das Bein abzuhacken.« Ein weißer Mann in einer langen weißen Kutte geht ruhig auf Ram Khan zu. An seinem Gürtel baumelt ein hölzernes Kreuz. Der Schneider, sonst selten um Worte verlegen, sieht den jungen, weißen Mönch verständnislos an, der fortfährt: »Lasset die Kinder spielen, so steht es geschrieben, also sagen Sie mir, warum sperren Sie dieses Kind in eine Kiste ein?«
»Ich kann doch wohl mit meinem eigenen Kind machen, was ich will. Oder etwa nicht?«
»Ihr Kind?« Der Mann streckt eine Hand in die Kiste und zieht Madan sanft heraus.
Ram Khan springt auf. Der Bretterboden knarrt laut unter der jähen Bewegung. »Lassen Sie die Pfoten von meinem Kind.«
»Ihr Kind«, wiederholt der Mann. »Dann sagen Sie mir doch mal, wie der Junge an die Narbe an seinem Hals gekommen ist.«
Madan, der halb in und halb vor der Kiste hockt, macht sich so klein wie möglich. Sein Fuß, auf dem der Stein gelandet ist, blutet ein bißchen, aber verglichen mit dem alten Schmerz der Kinnwunde ist es nicht schlimm.
»Er ist früher mal hingefallen«, blafft Ram Khan.
»Das ist nicht Ihr Kind«, sagt der Mann.
»Für wen halten Sie sich eigentlich!« schnauzt Ram Khan, der sich aus den Augenwinkeln vergewissert hat, daß kein Polizist auf der Straße zu sehen ist.
»Ich bin Bruder Franciscus von der St.-Thomas-Kongregation. Letzte Woche bin ich schon zweimal hier vorbeigekommen und habe gesehen, wie Sie das Kind behandeln. Ich weiß Ihren Namen, Sie heißen Ram Khan, Sie kommen aus dem Punjab und Sie haben überhaupt kein Kind. Sie sind ja nicht einmal verheiratet.«
Ram Khan fällt der Unterkiefer herab.
»Deshalb nehme ich den Jungen jetzt mit. Wenn Sie mich daran hindern wollen, rufe ich die Polizei.«
Der Schneider ringt nach Worten, nach
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