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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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los, alle springen zurück. Der General schlägt den letzten Strick durch, die Rohre knirschen, aber bleiben auf dem Wagen liegen. Der General macht ein enttäuschtes Gesicht, er hatte gehofft, die Eisenrohre würden alle auf einmal herabfallen. Es wäre ein fabelhafter Abschluß seiner Vorstellung gewesen. Er schlägt mit dem Spaten noch einmal dagegen und dreht sich um. Die Arbeiter sehen sprachlos zu. Der Stapel beginnt zu knacken, eines der Rohre löst sich und gerät ins Rutschen. Der Mann mit dem Kopftuch will Victor vom LKW wegziehen, aber Victor läßt sich nicht ziehen, er will mit seinen Stiefeln davonschreiten.
    Er schreitet zu spät. Mit einem Knall wird er nach vorn geworfen, als sei hinter ihm eine Granate detoniert. Das erste Rohr schlägt gegen seine Waden. Seine Beine sind kraftlos, als wären sie durchgeschnitten. Seine Knie berühren den Boden, und er spürt, wie sie brechen. Das nächste Rohr fällt auf das vorige und zertrümmert ihm die Schienbeine. Mit donnerndem Krachen rutscht die ganze Ladung vom Wagen. Ein Rohr nach dem anderen fällt auf die Beine des Generals. Er spürt, wie seine Knöchel und Füße zerquetscht werden. Ein fast euphorisches Gefühl überkommt ihn. In seinen Stiefeln werden die Knochen zu Splittern zermalmt. Nur das Leder hält das Fleisch zusammen. Die nächsten Rohre fallen auf seinen Rücken. Die Männer schreien. Werfen ihre Spaten davor, versuchen es aufzuhalten. Die Eisenrohre prasseln weiter herab, wie das Finale einer bombastischen Symphonie.
    Durch die Musik hindurch hört Victor ringsum die Kugeln der Japaner einschlagen. Sie treffen ihn nicht, er ist unverwundbar, das weiß er. Der Krieg ist vorbei, und er ist lebend aus dem Dschungel herausgekommen, er ist gerannt, mit seinen Stiefeln gerannt. Er läuft den Fluß entlang, seine Füße in den Stiefeln fühlen sich naß an. Bei jedem Schritt quillt Blut über den Schaft. Er sinkt in den Schlamm ein, der morastige Grund macht ihm das Laufen unmöglich. Er liegt auf dem Bauch. Ihm wird bewußt, daß er auf dem Boden liegt, mit dem Gesicht auf Steinen. Der Trommelwirbel verstummt, ein letzter hoher, singender Ton klingt nach. Dann wird es dunkel und still.
    Der Fahrer murmelt: »Die Rohre sind nicht für hier.«

1953
Bombay
     
     
     
    Der Strick mit den Knoten peitscht immer wieder auf ihn herab und hinterläßt auf seinem Rücken rote Striemen. In der Kapelle singt der Knabenchor mit hohen, zerbrechlichen Stimmen. Die Kirchgänger, hauptsächlich Nachkommen unehelicher Kinder von englischen Soldaten, die nach dem Schwängern einer indischen Schönheit die werdende Mutter mit ihrem Geschenk allein ließen, feiern mit den Mönchen der St.-Thomas-Kongregation Ostern. Bruder Franciscus hofft, daß ihn niemand vermißt. Er steht mit entblößtem Oberkörper im Duschraum und geißelt sich mit seinem Gürtel. Sein Traum – für den er Hindi gelernt hat –, als ehrwürdiger Missionar gute Werke an den Ärmsten der Armen zu vollbringen, ist zerbrochen. Seit einer Woche ist Josef, der Junge, den er aus den Händen des tyrannischen Schneiders gerettet hat, verschwunden, und das ist seine Schuld. Das weiß er genau.
    Am Vormittag, als er beim Vorbeten an der Reihe war, wußte er nicht, wo sie gerade waren. Der Abt hatte ihn mit Befremden angesehen. Mit gesenktem Kopf hatte er verzweifelt im Meßbuch nach den richtigen Worten gesucht, aber der Satz, der von ihm erwartet wurde, blieb aus. Die Buchstaben waren vor seinen Augen getaumelt, und der Abt hatte seinem Nachbarn ein Zeichen gegeben, auch seinen Part zu übernehmen. Als sie später in der Osterprozession zur Kapelle schritten, hatte er sich als letzter in die kniende Reihe neben dem Altar geschoben. Seine Gedanken flogen, wie in jeder Sekunde, in der er nicht von frommen Pflichten abgelenkt wurde, zu Josef. Wo mochte er sein? Zum Schneider war er nicht zurückgegangen, dort hatte er am Morgen schon nachgesehen. War er zusammen mit dem ungläubigen Abbas weggelaufen, der sich vor nichts und niemandem fürchtete und vor allem ein Bekehrungsprojekt des Abtes persönlich war? Wenn sie nur die Finger von ihm lassen, betete er. Er fühlte sein Geschlecht anschwellen und sah, daß an seiner Kutte neben dem Holzkreuz eine Ausstülpung entstand. Ganz still hatte er sich vom Altar zurückgezogen und war ins Badezimmer geschlichen. Er band den Strick um seine Taille los, hängte das hölzerne Kreuz an einen Nagel, ließ die Kutte von seinen Schultern gleiten und

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