Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
Vom Netzwerk:
tragen, versprach er. Langsam hatte er einen Schritt vor den anderen gesetzt. Die Füße der Frau baumelten neben seinen Knien. Er hatte Löcher in den Rucksack geschnitten, aus denen die Beine der Frau ragten. Sie war leichter als das Stück Fleisch, das er am ersten Tag im Rucksack gefunden hatte. Völlig unerwartet, ohne warnendes Geräusch war die Brücke eingebrochen. Zusammen waren sie in das reißende Wasser gestürzt und hinabgezogen worden von einer mächtigen Hand. Er hatte gekämpft, auf dem Rücken die an ihn gefesselte Last. Er wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt, wo er beinahe am Ziel war. Jedes Mal, wenn er merkte, daß sie an der Oberfläche waren, wurden sie wieder hinabgezogen. Er strampelte mit den Beinen, schlug mit den Armen um sich und schwamm. Bis er merkte, daß ihm der Rucksack von den Schultern rutschte. Als würde sie abspringen, sich von ihm abstoßen. Er griff nach ihr, aber die spindeldürren Beine glitten weg, bevor er sie packen konnte. Er tauchte auf, schnappte nach Luft und tauchte wieder. Sie war weg. Er hatte von neuem nach Luft geschnappt und war wieder nach ihr getaucht, aber sie war verschwunden.
    Wie er ans Ufer gekommen ist, weiß er nicht. Er hört nur die Panik in der Stimme des Jungen.
    »Peter! Sieh mich an! Du darfst mich nicht allein lassen!«
    Der Pekinese bellt froh, als er die Augen öffnet.

1954
Bombay
     
     
     
    Es ist dunkel. Aus dem Nichts springt ein Mann hervor, der ihm den Apfel aus der Hand reißt und ihn sich in den Mund stopft. Madan hat keine Ahnung, wo er ist. Er will protestieren, der Apfel ist für Abbas, aber als er das boshafte Gesicht des Mannes sieht, hält er den Mund. Die schnellen Finger des Mannes gleiten über seinen Körper, wie es auch die Finger von Bruder Franciscus getan hatten, aber finden nicht, was sie suchen – Madan trägt nur eine zerrissene kurze Hose und hat alles, was er besitzt, beim Leichnam seines Freundes zurückgelassen.
    Langsam nimmt er den schmalen, länglichen Raum wahr und die Männer, die an die Wände gelehnt dasitzen und ihn lauernd ansehen. Madan bleibt schweigend in der Mitte des Raumes stehen und schließt die Augen.
    Ich muß zurück. Ich muß Hilfe holen. Ich darf ihn nicht allein lassen.
    Die eiserne Tür hinter ihm wird geöffnet. Er dreht sich um und sieht, wie ein alter Mann grob hineingestoßen wird, und als die Tür wieder zuschlägt, hört er, wie sich ein Schlüssel im Schloß dreht. Im »Kisten-Laden« von Ram Khan fühlte er sich immer sehr wohl, wenn abends die große Holzplatte vor den Verschlag geschoben wurde und er eingeschlossen war. Hier empfindet er nicht die Sicherheit, die Schlösser ihm bisher boten.
    »Laßt mich raus …«, bettelt der alte Mann und hämmert mit den Fäusten an die schwere Tür. »Ich habe nichts verbrochen … Laßt mich frei …«
    Plötzlich weiß Madan, wo er ist, auch wenn ihm nicht klar ist, wie er hierher gekommen ist. Er wollte Hilfe suchen für Abbas, der allein zwischen den hohen Mauern am Kai liegt und auf ihn wartet.
    Die Tür wird wieder geöffnet, und vier Polizisten mit Gummiknüppeln kommen in den Raum. Der alte Mann weicht zurück, auch Madan sucht sich einen Platz möglichst weit weg von den bedrohlichen Polizisten. Einer von ihnen deutet mit seinem Knüppel auf einen Bären von einem Mann, der sich fluchend hochrappelt und brutal mitgezerrt wird. Die Tür fällt krachend zu, und der alte Mann beginnt wieder daran zu hämmern.
     
    Regelmäßig öffnet sich die schwere Tür, und jemand wird hineingestoßen oder herausgeschleppt. Viele der Neuankömmlinge schreien, daß sie nichts verbrochen haben. Der alte Mann wurde schon vor Stunden abgeholt, die Polizisten hatten ihn zuerst mit ihren Knüppeln zum Schweigen gebracht und dann hinausgeschleift.
    Madan kauert, wie die anderen, auf dem Boden. Er macht sich Sorgen. Obwohl es in dem dunklen Keller nicht so furchtbar warm ist, weiß er, daß draußen eine Gluthitze herrscht. Über den Tod selbst weiß er nicht viel, aber das Jahr, in dem er mit Abbas auf der Straße gelebt hat, hat ihn gelehrt, daß eine Ratte, eine Ziege oder ein Hund, die gestorben sind, nach einem Tag schrecklich zu stinken anfangen und daß die Leute sich dann darüber aufregen. Er darf nicht zu lange wegbleiben. Er muß zurück. Als er hört, daß sich der Schlüssel wieder im Schloß dreht, steht er auf und geht zur Tür. Ein stockbetrunkener Mann schwankt fröhlich herein, und bevor die Tür zugezogen wird, zwängt Madan

Weitere Kostenlose Bücher