Warten auf den Monsun
Frucht an seinen Gaumen. Er glaubt sich im siebten Himmel.
»Keine Wohnung?« sagt der Neffe erstaunt. Herr Patel erzählt flüsternd, was passiert ist und wo er in den letzten Monaten war. Sein Neffe sieht ihn ungläubig an und stößt immer wieder einen Schrei des Abscheus aus, vor allem, als Herr Patel von dem Eimer hinter dem Vorhang und den Launen und Anwandlungen von Ibrahim, dem Mörder, erzählt.
Madan hört nichts. Er schmeckt und riecht nur den Apfel, der himmlischer schmeckt als die leckerste Frucht, die er jemals in Wirklichkeit oder in seiner Phantasie gegessen hat.
Herr Patel legt die Hände in den Schoß, seufzt erneut und fragt seinen Neffen, ob er einen Schlafplatz für ihn habe.
»Bei mir?«
»Du bist mein einziger Verwandter hier in Bombay.«
Der Neffe bedenkt den schmatzenden Madan mit einem scheelen Blick. »Aber nicht für ihn.«
»Auch nicht für eine Nacht? Morgen versuche ich, etwas anderes für ihn zu finden.«
»Hat er Läuse?«
»Ich fürchte, daß wir beide Läuse haben.«
Der Neffe bemüht sich, seinen Widerwillen nicht zu zeigen, und Herr Patel blickt verschüchtert in eine andere Richtung.
»Wenn du mir etwas Geld leihen könntest, gehen wir zu einem Friseur, und ich lasse uns kahlscheren.«
»Und die Fingernägel schneiden«, sagt der Neffe mit einem Blick auf die Hände Madans und seines Onkels.
Das Hemd ist ihm zu groß und die Hose zu lang, aber Madan fühlt sich wie ein Prinz. Wie Herr Patel hat er sich ein Tuch um den kahlgeschorenen Kopf gebunden. Madan riecht nach Seife und hat keinen Hunger. Öfter noch als gestern grüßen die Leute sie, wenn sie zusammen über die Straße gehen. Herr Patel scheint hier jeden zu kennen, und als sie an einem Obststand vorbeikommen, wo Abbas und Madan mehrmals gestohlen haben, stellt sich heraus, daß der Besitzer und Herr Patel dicke Freunde sind.
»Dein Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagt der Besitzer zu Madan.
»Unmöglich«, sagt Herr Patel, »er kommt nicht aus diesem Viertel.«
»Ich könnte schwören, daß ich ihn schon mal gesehen habe.«
Obwohl er nicht hungrig ist und zum ersten Mal seit langem richtig gefrühstückt hat, kann Madan den Blick nicht von den glänzenden Äpfeln losreißen.
»Was macht dein Rücken?« fragt Herr Patel. »Schaffst du es noch, die Kisten zu schleppen?«
Der Mann brummelt etwas.
»Der Kleine ist ein sehr aufgeweckter Bursche«, sagt Herr Patel, »auch wenn er nicht sprechen kann.«
Der Obstverkäufer mustert den kleinen, schmächtigen Madan mit verächtlichem Blick. »Er ist, äh …« Der Mann zeigt auf seinen Mund.
»Darf er einen Apfel haben?« Herr Patel sieht den begehrlichen Blick seines kleinen Freundes.
»Nimm dir ruhig einen«, sagt der Besitzer und hofft, daß sich mit dem Apfel die Bitte seines Freundes, dem Jungen Arbeit zu geben, erledigt hat.
Madan ist tief beeindruckt, was für reiche Freunde Herr Patel hat. Alle haben sie Stände voller Gemüse und Obst, das sie einfach verschenken.
»Er ist stark«, preist Herr Patel ihn an.
Der Händler hat absolut keine Lust, einen stummen Jungen in Dienst zu nehmen, zumal er nicht mal mit Patel verwandt ist. Er begreift nicht, warum sein Freund sich überhaupt um das Kind kümmert.
»Ramdas, der sucht jemanden«, sagt der Händler plötzlich erleichtert.
»Da dürfen nur Erwachsene arbeiten, das weißt du doch.«
Madan ißt seinen Apfel und glaubt allmählich, im Paradies gelandet zu sein.
Die Männer sitzen schweigend nebeneinander.
»Chandan Chandran!« ruft der Mann nach einer Weile.
»Wer?«
»Chandan Chandran, der Mann mit dem Pferdeschwanz, der hier jeden Morgen vorbeikommt.«
»Der?!«
Das Haus neben der Buchhandlung hat graue Mauern. Die Fenster sind klein, und die Tür ist so niedrig, daß sich sogar Herr Patel bücken muß. Es ist ein Haus, an dem jeder vorbeigeht. Es hat nichts, worauf man stolz sein, und nichts, was Abscheu erregen könnte, es fällt einfach nicht auf. Auch Herrn Patel und Madan nicht. Erst nachdem sie viermal daran vorbeigelaufen sind und nach der Werkstatt von Chandan Chandran gefragt haben, sehen sie den Eingang. Sie treten in den schmalen, niedrigen Flur, in dem ein starker Geruch nach Eisen und Öl hängt. Sie wissen nicht, woher der Geruch kommt, denn es gibt keine Werkstätten, aber man merkt, daß das ganze Gebäude fast unmerklich bebt.
Am Ende des langen, dunklen Flurs ist eine Treppe. Unter dieser Holztreppe hängt eine Glühbirne, und dort, an einem alten, klapprigen
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