Warten auf den Monsun
Webstuhl aus Holz, sitzt ein Mann mit einem Pferdeschwanz. Von oben kommen Geräusche, die von schweren Maschinen stammen können. Herr Patel bleibt bei dem Mann mit dem Pferdeschwanz stehen. Madan läuft weiter, die Treppe hinauf. Herr Patel kann ihn gerade noch an einem Hemdzipfel festhalten. Er zeigt auf den Mann am Webstuhl. Madan schüttelt den Kopf. Herr Patel, der Chandan Chandran auch etwas exzentrisch findet, lächelt Madan zu und gibt ihm durch Gesten zu verstehen, daß der andere ein Fachmann ist. Hoffentlich hat der Junge nicht durchschaut, denkt er, daß er eigentlich nichts von dem Mann weiß.
Chandan Chandran zieht den Anschlagkamm zu sich hin und drückt den Faden an. Natürlich hat er den Mann, der nervös von einem Fuß auf den anderen tritt, und den Jungen auf der Treppe, der heftig den Kopf schüttelt, bemerkt. Er mag keine Besucher, die ihm auf die Finger sehen. Er ist am liebsten allein mit seinem Webstuhl in der Geborgenheit des kleinen, dunklen Raums unter der Treppe.
Oben an der Treppe erscheint eine dicke Frau, die Arme voller Regenschirme. Madan muß sich an die Wand drücken, um sie vorbeizulassen.
»Guten Morgen, Herr Chandran.«
»Guten Morgen, Frau Gutta.« Er blickt kurz auf, als die Frau vorbeigeht, um sich gleich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.
»Guten Morgen, Herr Chandran«, sagt nun auch Herr Patel, nur klingt seine Stimme etwas unsicherer.
Chandan Chandran blickt auf, als nehme er ihn erst jetzt wahr. »Guten Morgen«, ist seine Antwort.
»Mein Name ist Patel.«
Chandan Chandran webt in aller Ruhe weiter. Herr Patel spürt das Beben des Fußbodens und sieht, daß auch die Glühbirne leicht hin und her schaukelt. Der Schatten des Webers sieht aus wie eine Spukgestalt, die sich auf den Mann mit dem Pferdeschwanz stürzen will, es aber nicht wagt.
Herr Patel hüstelt unsicher und hofft, daß der Mann unter der Treppe ihn wieder beachtet. »Ich schreibe eine Doktorarbeit über Fremdbestäubung bei einheimischen Stadtpflanzen«, sagt er. Die Worte seines Neffen vom Vormittag hallen in seinem Kopf nach – »Du darfst nur wiederkommen, wenn du allein bist.« Herr Patel kann seinen Neffen gut verstehen. In dem Laden, in dem sie zu dritt zwischen den Obst- und Gemüsekisten geschlafen haben, war der Raum knapp, sogar im Gefängnis hatten Madan und er mehr Platz. Sein Neffe schlief wie immer an der Tür, der Junge hatte mit den Füßen auf einem Haufen Rüben und mit dem Kopf auf einem Berg Radieschen gelegen, und Herr Patel hatte die Nacht auf einer Kiste mit Auberginen sitzend verbracht. Die Kisten, die tagsüber draußen vor dem Laden standen, wurden abends gegen elf hereingeholt und aufgestapelt. Der Schemel und die Kasse standen auf den Kartoffeln. Das schmale Brett, das tagsüber als Theke diente, wurde zum Bett für seinen Neffen und fungierte gleichzeitig als Sperre, damit niemand die Tür von außen öffnen konnte. »Ich habe Biologie studiert.« Herr Patel weiß selber nicht, warum er nicht einfach fragt, ob der Weber Arbeit für Madan hat, aber die richtigen Worte wollen nicht aus seinem Mund kommen. »Ich war schon als Kind ganz verrückt nach Pflanzen, im Haus und rund ums Haus, und eigentlich wollte ich gar nicht in Bombay leben, aber für meine Studien ist das der beste Ort.«
Chandan Chandran preßt mit dem Anschlagkamm wieder einen Faden an das Gewebe.
»Eines Tages werde ich wieder in meine Heimatstadt Haidarabad zurückkehren, aber dort gibt es viel weniger einheimische Stadtpflanzen als hier. Ich hatte Kisten voller Bücher mit Beispielen, aber die sind jetzt weg.«
Madan versteht auch nicht, warum Herr Patel das alles dem webenden Mann erzählt, er will nach oben und sehen, woher das Rumoren kommt, das er hört. Leise geht er eine Stufe höher.
»Manche meiner Bücher waren sehr seltene Exemplare, nicht, daß jemand auch nur eine Rupie dafür geben würde, viel zu fachspezifisch, aber unersetzbar, vor allem das Buch Die genetische Metamorphose bei Einzellern .«
Noch eine Stufe. Madan tippt Herrn Patel auf die Schulter und winkt, daß er mitkommen soll. Schweigen tritt ein.
Chandan Chandran blickt auf.
»Ist das der Junge?«
Herr Patel nickt.
»Er kann als erstes das da aufribbeln.« Er zeigt auf einen zusammengefalteten, rot-weißen Baumwollstoff, der hinter dem Webstuhl liegt. Herr Patel lächelt erleichtert, nimmt den Stoff und drückt ihn Madan in die Hand.
Der kleine Junge, der doch geglaubt hat, daß Herr Patel sein Freund ist,
Weitere Kostenlose Bücher