Warten auf den Monsun
und das Gewühl der Menschen beängstigen sie nach der ganzen Zeit in der kleinen, dunklen Gefängniszelle. Sie biegen um eine Straßenecke und gelangen in eine ruhigere Gegend. Hier und da gibt es einen kleinen Laden mit ein paar Auslagen neben der Tür. Madan sieht es schon von weitem, Herr Patel erst, als sie fast davorstehen. Auf dem Gehweg steht neben einem Stuhl unter einem Sonnenschirm ein Karren, der mit Äpfeln voll beladen ist. Madan spürt, wie Herr Patel seine Hand fester greift, als könnte er seine Gedanken lesen, und erst als sie um die nächste Ecke gebogen sind, entspannt sich die Hand wieder.
Die Straßen werden breiter, der Verkehr nimmt wieder zu. Madan erkennt die Gegend wieder, hier haben Abbas und er oft gebettelt. Er vermißt seinen Freund auf einmal mehr als in all den Monaten in der Zelle. Unwillkürlich beginnt er zu humpeln.
»Tut dir was weh, Sohn?« Herr Patel zeigt auf sein Bein.
Madan schüttelt den Kopf und korrigiert schnell seinen Schritt. Er weiß, daß er zurück zum Hafen muß, um nachzuschauen, ob der Leichnam dort noch ist, das ist er seinem Freund schuldig, meint er, aber nicht heute. Herr Patel geht in eine schmale Gasse und bleibt vor einem niedrigen Tor stehen. Im Innenhof enden mehrere dunkle Treppen. Hier läßt er zum ersten Mal Madans Hand los.
Sie steigen die schmale Treppe ganz hinten hinauf. Ein Teil der Stufen fehlt, und auch das Geländer ist nicht mehr vorhanden. Madan ist froh, daß es hier wieder dunkel ist, das harte Sonnenlicht tut ihm in den Augen und an seinem nackten Oberkörper weh. Sie gehen über eine baufällige Galerie, und Madan kann in die Innenhöfe zwischen den Häuserblöcken schauen, wo Handwerker ihre Werkstätten haben. Farbgeruch steigt zu ihnen hoch. Herr Patel klopft an eine Tür, vor der ein Teppich hängt. Drinnen hören sie Gepolter, Gegenstände werden verrückt, und ein hochgewachsener Mann öffnet.
»Guten Tag«, sagt Herr Patel.
»Was wollen Sie?« sagt der Mann mit einer rauhen Raucherstimme.
»Das ist meine Wohnung.«
»Ihre Wohnung? Nein, das ist meine Wohnung.«
»Aber es war meine Wohnung.«
»Schon möglich, aber jetzt wohne ich hier, ich bezahle Miete und habe einen Vertrag.«
»Wissen Sie dann vielleicht, wo meine Sachen sind?«
»Sachen? Nein, es war leer, als wir eingezogen sind.« Eine hohe Frauenstimme hinter ihm will wissen, wer da ist.
»Niemand!« ruft der Mann hinein.
»Wissen Sie dann vielleicht, wo man meine Sachen hingebracht hat? Meine Bücher?«
»Ich lese keine Bücher. Fragen Sie die Nachbarn.« Ehe Herr Patel noch etwas fragen kann, wird ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Herr Patel klingelt nicht bei den Nachbarn. Er geht langsam zur Treppe zurück. Madan weiß, daß er weint, so wie er im Gefängnis oft geweint hat, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Sie überqueren den Innenhof, gehen durch das Tor, durch die Gasse. Madan spürt, daß Herr Patel nicht weiß, was er tun soll, Geld haben sie nicht, und der Spalt, hinter dem der Leichnam von Abbas liegt, ist zu schmal, da würde Herr Patel nicht durchpassen.
Auf der Straße nimmt Herr Patel wieder die Hand des kleinen Jungen und marschiert los. Madan merkt, daß es ein großer Unterschied ist, ob man als Bettler herumläuft oder an der Hand eines alten Mannes. Die Leute sind viel freundlicher, und manchmal werden sie sogar gegrüßt. Bei einem Gemüseladen bleibt Herr Patel stehen. Madan sieht die hoch aufgetürmten Äpfel und Mangos. Ob Herr Patel damit einverstanden ist, wenn er schnell etwas stibitzt?
»Onkel!« sagt jemand überrascht hinter der Ladentheke. »Wie lange habe ich dich nicht gesehen. Wo bist du gewesen?«
Herr Patel zieht Madan mit sich in den Laden. Vom Duft der frischen Früchte und des Gemüses läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Der alte Mann setzt sich seufzend auf einen wackligen Schemel. Madan hat nur Augen für die Äpfel.
»Nimm dir ruhig einen«, sagt Herr Patels Neffe.
Madan guckt sich die Äpfel prüfend an. Er spürt den Geschmack bereits im Mund. Noch nie hatte er soviel Zeit zum Aussuchen, immer schnappte er sich den erstbesten. Seine Hand schwebt über der Kiste. Dann nimmt er sich den allergrößten, allerrotesten Apfel, den er jemals gesehen hat. Er hält ihn in der Hand und dreht ihn immer wieder um, bevor er hineinbeißt. Der süße Saft rinnt ihm über die Lippen, das kühle, feste Fruchtfleisch bricht zwischen seinen Zähnen auseinander. Bei jeder Kaubewegung spritzt die Flüssigkeit der
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