Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
aber im Urlaub auf einer griechischen Insel die Tomaten vom örtlichen Markt genossen hat, dem wird nach seiner Rückkehr der Wassergeschmack der heimischen Supermarkttomaten unangenehm auffallen.
Der Wirtschafts- und Sozialphilosoph Charles B. Handy beschrieb einmal das drastische Experiment mit einem Frosch, den man in heißes Wasser setzt. Das Tier entzieht sich den unangenehmen Temperaturen durch rettende Flucht. Weil er sofort wieder herausspringt, bleibt er nahezu unverletzt. Setzt man ihn aber in angenehm lauwarmes Wasser und erhitzt es dann langsam, verendet der Frosch regungslos. Er hat keine Chance, sich in Sicherheit zu bringen, denn der langsame Temperaturanstieg entgeht seiner Wahrnehmung. Er nimmt wohl Schmerz wahr, kann ihn aber offensichtlich nicht in Zusammenhang mit der Umgebungstemperatur bringen. Wenn er dann endlich bemerkt, dass es ihm zu heiß wird, hat er längst die Kraft verloren, um noch herauszuspringen. Er hat den Absprung im wahrsten Sinne des Wortes verpasst.
Uns Menschen ergeht es allzu oft wie dem Frosch im Kochtopf. Nur steigt um uns herum nicht langsam die Temperatur an, sondern der Stresspegel. Und wir springen nicht!
Ich erinnere mich an eine Seminarteilnehmerin, die in einem Weltkonzern eine verantwortungsvolle Position innehat. Sie erzählte mir, dass sie oft noch spät abends Aufgaben erledigt, die sie tagsüber nicht geschafft hat. Zu Hause habe sie die nötige Ruhe und könne die Mails auch ausführlicher beantworten. Dass sie bis spät in der Nacht an ihrem Rechner saß, war für sie Normalität geworden. Doch eines Nachts war sie dann doch erschrocken: Als sie um 2:46 Uhr eine E-Mail an ihren Vorgesetzten schickte, erhielt sie um 2:51 Uhr seine Antwort. Erst jetzt fing sie an zu ahnen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Für einen Außenstehenden war abzusehen, dass sie wie der Frosch im Kochtopf irgendwann gar gekocht sein würde.
Der Effekt, dass eine allmählich ansteigende Arbeitsbelastung vom Betroffenen überhaupt nicht wahrgenommen wird, folgt dem Prinzip der Shifting Baselines . Es besagt: Parallel zur Veränderung von Umweltbedingungen verschiebt sich auch die Wahrnehmung des Menschen. Erstmals hat diesen Vorgang der Fischbiologe Daniel Pauly beschrieben, der sich mit dem zeitlichen Verlauf von Fischpopulationen beschäftigte. Ihm fiel auf, dass alle Fischexperten die Verhältnisse, die sie am Anfang ihrer wissenschaftlichen Laufbahn vorgefunden hatten, automatisch und ohne weitere Hintergedanken als Basis für die Beschreibung der weiteren Entwicklungen nahmen. Pure Gewöhnung.
Diese Shifting Baselines finden wir in allen möglichen Lebensbereichen. Ein Arbeiter wird die Verdichtung der Arbeit, die Erhöhung der Schlagfrequenz gar nicht erst wahrnehmen. Die Anforderungen werden so unmerklich angehoben, dass alle mitziehen. Burnout-gefährdeten Menschen macht das zunächst sogar Spaß. Gerade die Lust an Leistung und an Effizienzsteigerung ist es schließlich, die sie auszeichnet. Doch eine Leistungssteigerung lässt sich nicht ins Unendliche ausdehnen. Irgendwann geht zwangsläufig dem Ersten in der Kette die Luft aus. Das erhöht nur noch den Druck auf die Übrigen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der nächste Dominostein fällt – irgendwann bricht das Ganze zusammen.
Offenbar sind wir gegen die allmähliche Tempoerhöhung machtlos, weil wir sie erst dann wahrnehmen, wenn es schon zu spät ist. Aber warum kommt es überhaupt zur Tempoerhöhung?
Im Tretmühlenmodus
Wenn jeder Sachbearbeiter einer Versicherung normalerweise 300 Kunden zu betreuen hat, ist das eine umfassende Tätigkeit, die ihn ausreichend auslastet. Klar, da ist noch Luft nach oben. Denn wenn ein Kollege mal krank ist, schafft der Sachbearbeiter zur Not auch 500 Kunden. Er ist dann abends zwar ziemlich erledigt, aber auch stolz, es geschafft zu haben. Zum Problem wird dies nur, wenn von jetzt an 500 Fälle die Norm sein sollen. Eine sofortige Erhöhung von 300 auf 500 – da gehen die Leute schnell auf die Barrikaden, die Gewerkschaft erinnert sich an ihren Auftrag und lässt die Muskeln spielen. Aber von 300 auf 320 und ein paar Monate später auf 350 – das nehmen Menschen nicht wahr. Irgendwann werden so tatsächlich 500 Versicherte erreicht. So wird Höchstleistung Standard. Und die Schraube kann immer noch eine weitere halbe Umdrehung angezogen werden.
Wenn wir uns umsehen, sehen wir die Schraubendreher überall am Werk: Tempoerhöhung und Arbeitsverdichtung, wohin wir auch
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