Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
kurzer Zeit durch meinen Blick von außen eindeutig: Die Frau steht einfach an der falschen Stelle (nämlich im Supermarkt hinter ihrem Verkaufstischchen).
Das gravierende Problem in ihrer Biografie war, dass sie ihre eigene Rollenzuschreibung über Bord werfen und fremde Rollenkonventionen lernen musste. Zunächst der Aufbruch aus der elterlichen Arbeiterfamilie in ein unbekanntes, akademisches Umfeld. Dann wiederum das Verlassen des akademischen Umfelds, um in der einfachen, liebenswerten Familie des Partners ein Zuhause zu finden. Da sie gefühlt dauerhaft am falschen Platz stand, schien ihr das nun das Stehen im wahrsten Sinne unmöglich zu machen.
Hinter den Problemen von Maria Fein steckt eine permanente Rollenunsicherheit. Und so geht es vielen Menschen, die mit Burnout zu kämpfen haben. Sie mussten in ihrem Leben ihre Rolle ständig neu finden und gestalten. Die Biografien der ausbrennenden Menschen wirken wie Variationen des immer gleichen Motivs der permanenten Anpassung.
Es gibt zum Teil hochdramatische individuelle biografische Ereignisse, die den Menschen prägen und beeinflussen, ohne dass er auf deren Verlauf hätte Einfluss nehmen können. Ein Mann erzählte mir von seinem Vater, der sich eines Tages auf dem Dachboden erhängt hatte. Sein jüngerer Bruder fand den Körper des Vaters und keine zwei Jahre später folgte er diesem und erhängte sich ebenfalls im Keller des Familienhauses. Der Mann fühlte sich bis heute über alle Maßen schuldig, dass er weder die Depression des Vaters noch die des kleinen Bruders erkannt hatte und so das Leben der beiden für ihn so wichtigen Menschen nicht retten konnte. Heute arbeitet der Mann in einer Schiffswerft als Vorarbeiter und ist für die Sicherheit eines großen Teams verantwortlich. Er schläft schon seit Jahren schlecht, obwohl ihm sein Beruf und seine Projekte Freude machen, obwohl sie ihn herausfordern und ihm viel Bestätigung einbringen. Aber der ständige Druck, für andere – für das Leben anderer – verantwortlich zu sein, macht ihn mürbe. Und als ein Mann aus seinem Team bei einem Unfall am Arbeitsplatz schwer verletzt wurde, brach er zusammen. All die Jahre, in denen er nun schon die diffuse Angst in sich trug, durch eine mögliche Unaufmerksamkeit eines Tages wieder für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich zu sein, ließen ihn in kürzester Zeit komplett ausbrennen. Der Mann hätte bei seiner Biografie trotz all seiner fachlichen Qualifikation niemals eine solche Verantwortung schultern dürfen.
Wenn vorgegebene Rollen nicht ausgefüllt werden oder ausgefüllt werden können, muss ein Mensch einen hohen seelischen Aufwand betreiben, um zu „funktionieren“. Für immer wieder neu gefundene Biegungen im Lebenslauf müssen immer wieder neue Rollen gefunden werden. Ansprüche der Umgebung bleiben unerledigt – sie können vielleicht auch gar nicht erfüllt werden. Aber diese Ansprüche zehren die Menschen tagtäglich aus. Sie sind wie Fahrstuhlmusik, die im Hintergrund säuselt: „Du genügst nicht, du bist nicht okay, so wie du bist, du musst ein anderer werden, du musst dich entwickeln, du bist nicht gut genug, du bist der Falsche ...“, während der Aufzug langsam abwärts fährt.
Wenn die Rollen unsicher werden, verwischen oder ständig wechseln, dann wird die Frage nach dem eigentlichen Ich immer wichtiger und unüberhörbarer: „Bin ich wirklich eine Führungskraft? Bin ich wirklich ein Vater? Bin ich wirklich eine Ehefrau? Bin ich wirklich eine Verkäuferin? Bin ich wirklich Akademiker? Bin ich wirklich ... wer bin ich eigentlich? Und vor allem: Wer bin ich, wenn ich die Rollenansprüche, die an mich gestellt werden, nicht aus- und erfüllen kann?“
In der Frage nach der Diskrepanz zwischen dem inneren und dem äußeren Ich, zwischen Identität und Anspruch, zwischen Rollenwahl und Rollenerwartung liegt der Schlüssel zum eigentlichen Problem.
Der emotionale Stress, den diese grundsätzliche, existenzielle Verunsicherung verursacht, ist so groß, dass die Menschen ihn, und seien sie auch noch so stark, auf Dauer nicht aushalten können. Heute lautet die Antwort auf die Frage „Wer bist du?“ unterschwellig und allgemein: „Du bist der, den du aus dir machst. Wer du bist, das ist reine Verhandlungssache mit dir selbst.“ Und genau das löst kollektiven Stress aus. Die Zeiten des reinen Seins sind vorbei. Einmal Bergmann immer Bergmann, das geht heute nicht mehr. Wir leben in einer Zeit des aktiven Gestaltens
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