Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
das väterliche Bäckerhandwerk in Form von Kunden, die nach Feierabend klingelten, oder durch die fehlende Sonntagmorgenruhe allgegenwärtig. Die Familie war die alteingesessene Bäckerfamilie des Dorfes, und es bestand kein Zweifel, dass die Tochter den elterlichen Betrieb übernehmen würde. Doch schon in jungen Jahren formte die Kleine aus Teig lieber Fantasiebauwerke als solide Backwaren, und gegen allen Widerstand aus Familie und Dorfgemeinschaft schaffte sie es, eine Ausbildung als Architektin zu absolvieren und einen Beruf zu ergreifen, der sie von Herzen interessierte und ausfüllte. Dennoch kam sie müde und abgeschlagen zu mir. Der freie Fall aus dem sicheren Nest schien nirgendwohin zu führen und dauerte noch immer an; die aufgegebene Rollensicherheit war noch nicht durch etwas anderes ersetzt worden.
Lange dachte ich, dass alle diese Schicksale, die mir im Rahmen meiner Arbeit begegnen, Einzelbiografien seien, die zwar eindeutig auf individuelle Probleme hindeuten, jedoch kein Muster erkennen lassen. Meine Frage war: Was nur ist es, das all diese Menschen und ihre Lebensgeschichten miteinander verbindet?
Ich fand durchaus Gemeinsamkeiten: Alle Burnout-Kandidaten haben ihr Leben auf eine individuelle Weise sehr selbstständig gemeistert. Sie sind nicht den ausgetretenen Pfaden einer Gemeinschaft gefolgt, sondern haben ihr Leben auf ihre eigene Art und Weise gestaltet. „I did it my way“ von Frank Sinatra könnte man bei fast allen Teilnehmern im Hintergrund mitlaufen lassen.
Der Song könnte ja auch mal lauten: „Ein Freund, ein guter Freund“ oder: „Bochum, ich komm aus dir“ oder: „We are family“, aber hervorstechend ist immer der ganz eigene Weg, den sie mit Fleiß, Durchsetzungsvermögen und individuellen Problemlösungsstrategien gehen und nicht getragen von der Gemeinschaft, dem Nest, den Gleichgesinnten.
Jeder hat seine Wurzeln und spürt die vorgegebenen Erwartungen der Familie. Wir alle sind immer von Idealen, Vorgaben und Vorbildern umgeben. Wir werden in vorgegebene Rollen hineingeboren, die uns oft nicht bewusst sind. Die Art, wie sich der Umgang mit diesen Rollen gestaltet, ist die Basis für die eigene Identität. Denn die Frage nach den Rollen ist verbunden mit der ganz grundlegenden Frage: „Wer bin ich?“ Oder etwas hintergründiger: „Bin ich der, der ich eigentlich bin?“ Oder etwas spiritueller: „Bin ich der, der ich sein sollte?“
Wenn aber ein gestandener Mann auf die Frage, wer er ist, zuerst ausweichend antwortet und dann in Tränen ausbricht, wenn ihn das Forschen nach dem wahren Ich so völlig aus der Bahn wirft, drängt sich die Frage auf: Sind es die Rollen im Leben, die bei Burnout-Kandidaten nicht im Lot sind? Ist das der Ansatzpunkt? Liegen die Anlagen für einen Burnout in der Vergangenheit, im Lebenslauf? In der Diskrepanz zwischen dem ausgesprochenen oder stillschweigenden Anspruch der Familie und dem den Betroffenen umgebenden sozialen Feld einerseits und dem gefühlten Ich andererseits? Könnte es sein, dass die Menschen innerlich ausbluten, weil sie ihre legitime, sichere Rolle im Leben nicht finden können?
Was Sicherheit gibt
Karina Holsen hat ihre totale Ermattung überwunden. Die 35-jährige Betriebswirtschaftlerin arbeitete in einem Versandhandel und hatte eigentlich keine konkreten Missstände zu beklagen. Doch sie fühlte sich ständig überfordert und alleingelassen. Auch wenn sie alle Probleme zur Zufriedenheit der Vorgesetzten bewältigte, hatte sie immer das Gefühl, am falschen Platz zu sein. Erst als ihre Schlaflosigkeit überhandnahm und sie kurz vor dem Zusammenbruch stand und ihr Lebensgefährte ihr das Messer auf die Brust setzte mit der dringenden Forderung, etwas an ihrer Lebensunfreude zu ändern, bewarb sie sich bei anderen Firmen.
Und dieser Wechsel in ein anderes Unternehmen änderte alles: Karina Holsen kam in eine Arbeitsgruppe, die den Vertrieb des Unternehmens neu aufstellen sollte. Ihre Aufgaben sind heute klar umrissen, ihr Platz in der Gruppe ebenso. Sie bekommt innerhalb der Gruppe und innerhalb der gesamten Firma ausdrückliche Anerkennung und dazu sehr viel Hilfe und Unterstützung. Die feingliedrige Frau fühlt sich dort wohl und ihr gesamtes Auftreten, ihr Gang und ihre Körperhaltung drücken seitdem Kraft und Zuversicht aus. Die junge Frau hat nun das Gefühl, ihren Platz im Leben gefunden zu haben, sie kann nachts gut schlafen und das Wochenende entspannt mit ihrem Freund genießen. Obwohl der
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