Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
bestimmen. Niemand muss mehr bei den Leisten bleiben, nur weil der Vater Schuster war. Jeder kann die Entscheidungen für sein Leben selbst treffen, sogar mehr als nur ein Mal. Diese Freiheit hat aber ihren Preis. Wie mein Leben auch verläuft: Ich trage selbst die Verantwortung dafür. Wenn der Sohn eines Bäckers früher erwachsen wurde, folgte er selbstverständlich, ungefragt und mit großer innerer Sicherheit der Lebensspur seines Vaters. Die äußeren Umstände wurden nicht infrage gestellt. Heute kann er sich anders entscheiden, ist dann aber auch selbst schuld, wenn er dunkle Phasen in seinem Leben durchmacht. „Hättest du eben den Betrieb übernommen!“
Trug früher die Familie als Gemeinschaft stärker die Verantwortung für den Einzelnen, ist das Individuum heute auf sich selbst gestellt. So kann die Freiheit eines individuellen Lebenslaufs jenseits der vorgegebenen Strukturen zum stressigen Hürdenlauf werden.
Auf dem Genogramm finden sich häufig auch Wurzeln, zu denen die Ausbrenner keinen Zugang mehr haben. Die aber sind meistens besonders interessant: Eine Teilnehmerin in einem Seminar erkannte: „Da gab es doch diese verrückte Oma, die Hutmacherin war ... Ich fühle mich der Frau stark verbunden, obwohl mir der Kontakt als Kind immer untersagt war. So bin ich mit meinem kreativen Beruf vielleicht doch gar nicht so aus der Art geschlagen , obwohl ich aus einer Arbeiterfamilie stamme.“
Der nächste Schritt in der Beschäftigung mit dem Genogramm ist die Skizze des eigenen Werdegangs: Wie lassen sich die Wendepunkte im Leben darstellen, an denen der Fluss des Lebens eine Biegung nehmen musste, weil irgendetwas geschehen ist? Wie ist der Mensch mit diesen Wendungen umgegangen? Wie hat er nach einem Umzug in der neuen Schule Freunde gefunden? Wie ist er mit einer Trennung umgegangen? Wie hat er auf Misserfolge reagiert?
Bei solchen Wendepunkten muss es nicht zwangsläufig um die großen Ereignisse gehen, sondern etwa Momente wie: „Da hat jemand etwas gesagt“ oder: „Ich habe mitbekommen, dass ...“ Anhand dieser Punkte zeigt sich bei den Ausbrennern, mit denen ich arbeiten darf, in der Regel, dass sie auf Hindernisse und Hürden im Leben mit großer Disziplin und ausgeprägter Anpassungsfähigkeit reagieren. Sie ziehen sich bildlich gesprochen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf.
Nun darf ein Titel gefunden werden für die Wendepunkte und für die Familie. Die Struktur und die Hindernisse sollen ein Motto bekommen, einen Namen. Bei der Familie können dieser lauten: „Die Chaostruppe“, „Der Spießerclub“ oder: „Die Gerechten“. Und die Wendungen können heißen: „It’s my way“ oder: „An den eigenen Haaren aus dem Sumpf“ oder: „Hürdenspringer“.
Um die eigene Rolle innerhalb eines Familiensystems und dessen Bedeutung zu erkennen, ist manchmal auch der Blick in die biografische Vorgeschichte notwendig. Ein sehr erschöpfter Mann fand den Schlüssel zur Struktur seiner Familie, indem er sich die Biografie seines Vaters anschaute. Dieser wuchs auf dem großelterlichen Bauernhof auf in der sicheren Gewissheit, dass sein älterer Bruder den Hof einmal übernehmen würde. Doch dann geriet der Bruder in Kriegsgefangenschaft und seine Eltern konnten die anfallende Arbeit kaum noch bewältigen. Da übernahm eben der Vater des Erschöpften den Hof, obwohl er das nie gewollt und ihn die Landwirtschaft nie interessiert hatte. Er lernte Agrarwirtschaft und half der Familie als Bauer über die Runden.
Doch dann kam der vermisste Bruder aus dem Krieg heim – und weil es immer so besprochen worden war, erhielt dieser dann auch den Hof. Nun hatte der jüngere Bruder den ungewollten Beruf Landwirt gelernt und wusste nicht, was er sonst noch hätte machen können. Fortan verdingte er sich als Knecht in anderen Betrieben. Er hatte nicht den Mut und die Kraft, noch einmal neu anzufangen und seinen Wunschberuf zu erlernen. Das Lebensgefühl, das mein Seminarteilnehmer von seinem Vater mitbekommen hat, war: „Es hat sowieso alles keinen Sinn. Man muss nehmen, was kommt. Man kann sowieso nichts machen.“ Dieses Lebensgefühl der Resignation zog sich durch die gesamte Familiengeschichte.
Eine andere Patientin stammte aus einer Bäckerfamilie. Solange sie denken konnte, zogen die Düfte der Backstube durch ihr Leben. Die elterliche Wohnung befand sich über dem Laden; es gab keine wirkliche Abgrenzung. So wie der Duft seinen Weg bis in den hintersten Winkel des Alltags fand, war auch
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