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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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leidet - in beiden Fällen ist für ihn die Zeit in eine Richtung abgeschlossen. Saß er zuvor, in einem Bild von William James ausgedrückt, rittlings im Sattel der Zeit und konnte mit gleicher Leichtigkeit nach vorn oder hinten schauen, sitzt er jetzt permanent mit dem Rücken zur Vergangenheit oder zur Zukunft. Der Unglückliche, der von einer Kombination beider Amnesieformen betroffen ist, etwa bei Demenz, beendet sein Leben in einem Zeitsegment, das sich in beide Richtungen zu schließen beginnt und letztendlich zu einem Heute ohne Breite verschmälert, einem Jetzt ohne Rückblick oder Perspektive.
    Erinnern und vergessen
    Erinnern und vergessen, denkt man normalerweise, schließen sich gegenseitig aus. Woran man sich erinnert, das hat man nicht vergessen, was man vergessen hat, daran kann man sich nicht erinnern. Wo das eine aufhört, fängt das andere an. Aber wo läßt man bei dieser Zweiteilung die Erinnerung an das, was man vergessen hat? Nicht die Erinnerung an die Ereignisse selbst - die hat man vergessen -, aber das Wissen, etwas gewußt zu haben, was nun weg ist? Wenn man behalten kann, was man vergessen hat, dann bleibt im Gedächtnis offenbar doch etwas übrig, so ähnlich wie ein verblaßter Fleck an der Wand, dessen Umrisse zeigen, was dort jahrelang gehangen hat.
    Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen ist viel komplizierter, als daß beides sich schlicht gegenseitig ausschließt. Manchmal können wir uns an etwas nicht erinnern, obwohl wir sicher wissen, daß es sich doch in unserem Gedächtnis befindet. Jeder kennt die Erfahrung, daß ein Wort auf der Zunge liegt, die Klänge und Silben aber nicht in die richtige Reihenfolge hüpfen. Das Seltsamste daran ist noch, daß einem das Wort in dem Moment nicht einfallen will, aber daß es einem schon so eine Art Steckbrief verschafft. In der Beschreibung von William James:
    »Der Zustand unseres Bewußtseins ist dann merkwürdig. Es ist ein Loch darin. Aber nicht einfach so ein Loch. Es ist ein ausgesprochen aktives Loch. Es scheint, als würde eine Art Schatten des Namens darin hausen, der uns in eine bestimmte Richtung winkt und uns ab und zu das Gefühl gibt, ganz nah dran zu sein, um uns dann wieder ohne den gesuchten Begriff versinken zu lassen. Wenn man uns die verkehrten Namen suggeriert, weist dieses außergewöhnlich umrissene Loch sie sofort ab. Sie passen nicht in seine Form. Und das Loch des einen Worts fühlt sich ganz und gar nicht so an wie das Loch eines anderen Worts, so bedeutungslos beide - als Loch beschrieben - auch klingen mögen. Wenn ich vergebens versuche, mich an den Namen Spalding zu erinnern, ist mein Bewußtsein weit von dem Zustand entfernt, in dem ich vergebens versuche, mich an den Namen Bowles zu erinnern.«
    Dieses >Loch< kann sehr hartnäckig sein und mit quälerischer Beharrlichkeit weiterhin Aufmerksamkeit verlangen. Die Psychologen Brown und McNeill legten ihren Versuchspersonen Beschreibungen von wenig geläufigen Wörtern vor, wie »kleines chinesisches Fahrzeug< (Sampan) oder >Blutrache< (Vendetta). Wenn die Versuchsperson glaubte, das gesuchte Wort läge ihr auf der Zunge, stellten sie ihr eine Reihe von Fragen. Mit welchem Buchstaben fängt es an? Wie viele Silben hat es? Welche Klänge kommen darin vor? Gibt es ähnliche Wörter? Der Umriß des >Lochs< sorgte tatsächlich für Informationen. In der Hälfte aller Fälle zeigte sich, daß man mit Anfangsbuchstaben und Silbenzahl richtig lag. Aber dasselbe >Loch< rief auch ein neues Phänomen ins Leben. Oft fügten sich der Klang, die Silben und die einzelnen Buchstaben zu einem Wort, auf das der Steckbrief ebenfalls paßte und das sich immer wieder vor das gesuchte Wort drängte: die >ugly sister<. Für jemanden, der >Sampan< sucht, erhält ein Wort wie >Saipam< die Ironie, daß man ein Wort nicht finden kann, obwohl man doch
    eigentlich genau weiß, wo man suchen muß: genau hinter jener häßlichen Schwester.
    Ebenso alltäglich ist der Gedächtnisirrtum, daß man ganz sicher glaubt, etwas vergessen zu haben, obwohl es gar keine Erinnerung hat sein können. Dieser Lapsus ist mir aus eigener Erfahrung vertraut. 1979 verunglückte Anne Vondeling, Politikerin und ehemalige Vorsitzende des niederländischen Parlaments. In einer der Todesanzeigen, meiner Erinnerung nach vom Parteivorstand, standen vier Verszeilen. Die erste war: »Über die Heide, durch den leichten Nebel«, dann folgte eine Zeile, die ich nicht so schön fand und recht schnell wieder

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