Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
vergaß, und danach die Schlußzeilen:
»Rasselt die Nacht an Ketten hinunter
und klappt der Deckel der Welt zu.«
Unterzeichnet: »Gerrit Achterberg«. Dieses Bild, ein Deckel, der mit Ketten gehißt werden muß und den man also niemals wieder selbst wird hochheben können, sobald er einmal über einem zugeklappt ist, blieb ohne Anstrengung in meinem Gedächtnis haften, oder besser: es ließ sich nicht mehr daraus vertreiben. Als | ich später in diesem Jahr zur Geburt unserer Tochter Gesammel- , te Gedichte von Achterberg bekam, suchte ich stundenlang nach r dem Gedicht, aus dem diese Zeilen stammten. Nichts. Noch nicht [ einmal etwas Ähnliches. Vier, fünf Achterbergkenner, die ich danach fragte, konnten mir nicht weiterhelfen, einige von ihnen wa-| ren kategorisch davon überzeugt, daß die Strophe nicht von Ach-l terberg stammte. Seltsam, die Leute vom Parteivorstand werden sich doch nicht selbst ans Dichten gemacht und dann »Achter-' berg« darunter gesetzt haben?
Zwanzig Jahre später - die Tochter war schon wieder aus dem Haus - sehe ich wieder eine Todesanzeige mit diesen Zeilen. Zwei Unterschiede gibt es: Die Zeile, die ich vergessen hatte, ist weggelassen, und der Deckel >klappt< nicht, sondern >geht< zu. Erneut unterzeichnet mit »Achterberg«. Zur Sicherheit blättere ich noch einmal Seite für Seite durch seine gesammelten Gedichte. Ich ziehe auch die Register von Hazeus Biographie über Achterberg zu
Rate. Aber wieder nichts. Ich schneide die Anzeige aus, lasse sie eine Weile liegen und rufe dann den ersten Namen an, der unter der Anzeige steht. Er steht mir freundlich Rede und Antwort. Auf meine Frage, wie sie an die Zeilen gekommen seien, erzählt er mir, der Verstorbene, sein Partner, habe sie einmal in einer Todesanzeige von Anne Vondeling gesehen.
Ich suchte eine Lösung und fand eine Wiederholung des Rätsels. Was waren das für Geisterzeilen, die mit großen Zeitsprüngen für einen Augenblick aus dem Nebel auftauchten ? Waren sie überhaupt von Achterberg? Und wenn sie aus einem Gedicht stammten, das nicht in die Gedichtsammlung aufgenommen worden war, waren sie dann im höheren Sinn von Achterberg? Immerhin: »Was nicht gut ist, ist nicht geschrieben« - diese Zeile stammt sehr wohl von Achterberg. Ich schrieb einen Zeitungsartikel darüber und wartete auf eingehendere Hinweise. Eine Woche später war ich im Besitz einer Handvoll Briefe von Achterberg-Liebhabern. Was sie schrieben, versetzte mich in eine demütige Stimmung, die einige Tage anhielt. Ich hatte mich wirklich in allem geirrt. Zum ersten: Der Text war wirklich von Achterberg, es ist die vorletzte Strophe von »Fait ac-compli«. Der Schluß ist zu schön, um ihn nicht zu zitieren:
»Zwischen uns ist heute alles beschlossen worden.
Morgen bekomme ich Vollmachten aus Den Haag.
Dort wurde soeben der letzte Briefkasten geleert.«
Weiter: Das Gedicht stand ganz normal in der Gedichtsammlung auf Seite 955. Außerdem war es keine Anzeige des Parteivorstands, wie ich dachte, sondern von der Familie van Vondeling. Und schließlich: Bei Achterberg >klappt< der Deckel nicht, sondern er >geht< zu. Mit meinem >klappt< hatte mein Gedächtnis diese Zeile also noch zusätzlich in eine Klatschbumm-Atmosphäre gezogen, die bei Achterberg fehlt. Im nachhinein betrachtet also kein Wunder, daß die Achterberg-Kenner, die ich um Rat gefragt hatte, die Strophe nicht erkannten.
Aber es kam noch schlimmer. Bei der einen Zeile, die ich vergessen hatte, erinnerte ich mich nur noch, daß diese nicht so schön war. In Wirklichkeit gab es überhaupt keine vierte Zeile. Die mußte ich also erst dazuerfunden und sie anschließend vergessen haben. Mehrere Briefschreiber wiesen noch darauf hin, daß »Fait accompli« ursprünglich in der Sammlung In Vergessenheit erschienen war.
Vergessen vergessen
Wer um sein Gedächtnis besorgt ist, kann den >Everyday Memory Questionnaire< ausfüllen, den Baddeley und einige Kollegen entworfen haben. Der Fragebogen umfaßt 27 alltägliche Situationen, in denen das Gedächtnis versagt. Der Ausfüllende muß jedesmal auf einer Neunpunkteskala angeben, ob ihm das >in den vergangenen sechs Monaten überhaupt nicht< (1) oder »mehrmals am Tag< (9) passiert ist. Standardisiert auf ein allgemeines Publikum ohne spezifische Gedächtnisstörungen, zeigt dieser Test, daß bestimmte Situationen wie: zurückgehen müssen, um zu kontrollieren, ob man auch tatsächlich getan hat, was man tun mußte, vergessen, wo man etwas
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