Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
aufbewahrt, ein Wort nicht finden können, das einem auf der Zunge liegt, in einem Gespräch vergessen, was man gerade gesagt hat (»wo war ich gerade?«), oder nicht mehr wissen, ob etwas nun gestern oder eine Woche vorher passiert ist, so ziemlich jedem ein- oder zweimal pro Monat passiert. Die eigenen Zusagen vergessen, eine wichtige Nachricht vergessen weiterzuleiten, an der verkehrten Stelle nach Dingen suchen, die einen festen Ort haben, sich verirren in einem Gebäude, in dem man schon mehrfach gewesen ist, oder etwas wiederholen, was man gerade getan hat (»Wie kommt es, daß die Zahnbürste so naß ist?«), sind schon seltener: einmal pro Halbjahr. Wer Orte nicht erkennt, an denen er oft gewesen ist, eine Zeitung zu lesen beginnt, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß er sie schon gelesen hat, wichtige Einzelheiten vergißt, die am Tag zuvor geschehen sind, nicht mehr weiß, wann er Geburtstag hat, beim Lesen eines Zeitungsberichts den roten Faden verliert oder auch nur so etwas Unschuldiges tut, wie jemandem dieselbe Frage zweimal zu stellen, kann in den Punktzahlen anderer keinen
Trost mehr finden: sie geben an, das sei ihnen im vergangenen halben Jahr nicht passiert. Wie das so ist mit Normen, für die man beim durchschnittlichen Mitmenschen Anleihen macht: lange Zeit bieten sie eine gewisse Beruhigung (»Ich wiege, trinke, vergesse nur ein bißchen mehr als der Durchschnitt«), aber danach ist die Überschreitung doch um so besorgniserregender.
Bei Fragebögen wie diesem ergibt sich ein sonderbares methodologisches Artefakt. In der diagnostischen Praxis kann man unterschiedliche Instrumente handhaben, um die Schwere einer Gedächtnisstörung zu bestimmen. So läßt der eine behandelnde Arzt seine Patienten ein Tagebuch führen, ein anderer interviewt sie, ein dritter unterwirft sie standardmäßigen Gedächtnistests oder läßt sie selbst Fragebögen ausfüllen. Baddeley und seine Mitarbeiter wollten feststellen, ob all diese unterschiedlichen Methoden dieselben Ergebnisse liefern. Als Versuchspersonen dienten Menschen, die sich, oft bei einem Verkehrsunfall, ein Hirntrauma zugezogen und infolgedessen Probleme mit ihrem Gedächtnis hatten. Zu seiner Enttäuschung mußte Baddeley feststellen, daß sein eigener Fragebogen lückenhaft mit anderen Tests korrelierte. Im nachhinein betrachtet liegt die Ursache auf der Hand: Wer ein schlechtes Gedächtnis hat, vergißt, was er vergißt. Baddeley zitiert einen Abschnitt aus dem Tagebuch eines Jurastudenten, der durch eine Hirnblutung an Gedächtnisverlust litt: »Am späten Abend erinnerte ich mich gestern plötzlich daran, daß ich vergessen hatte, eine Liste der Dinge anzufertigen, die ich vergessen hatte. Aber wie soll ich auch wissen, was ich vergessen habe?« In Untersuchungen mit älteren Menschen - aber ohne Hirnschäden - zeigte sich derselbe Defekt: Wenn die Treffer immer günstiger ausfallen, markiert das den Moment, in dem das Gedächtnis sein eigenes Versagen gnädig vergißt. Manche Menschen haben ein so schlechtes Gedächtnis, daß sie sich nicht daran erinnern, irgendeinen Grund zum Klagen zu haben.
Schreiben im dunkel
Das weitaus seltsamste Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen läßt sich bei einem Phänomen beobachten, das man unter der Bezeichnung »implizites Gedächtnis< kennt. In dieser Gedächtnisform lagern sich die Erfahrungen ab, an die man zwar keine bewußten Erinnerungen hat, die aber dennoch das Handeln beeinflussen. Es ist ein Gedächtnisabteil, zu dem die Innenschau keinen Zutritt hat. Daß es existiert, ergibt sich nur aus den Effekten auf das Verhalten. Es arbeitet im Untergrund und ist nahezu unverwüstlich. Selbst bei den umfassendsten Formen von Amnesie bleibt das implizite Gedächtnis intakt.
Die ersten Hinweise darauf, daß so etwas wie ein implizites Gedächtnis existieren muß, tauchten bei Patienten mit anterograder Amnesie auf. Wenn man diese Patienten üben ließ, Texte in Spiegelschrift zu lesen, lernten sie das genauso schnell wie Menschen ohne Gedächtnisstörungen.
Das Seltsame war, daß sie die Texte und Übungen selbst vergaßen - und sich jeden Morgen den Forschern wieder höflich vorstellten -, aber im Lesen in Spiegelschrift genauso schnelle Fortschritte machten wie gesunde Versuchspersonen. Sie behielten das Gelernte, nicht das Lernen. Anfänglich dachte man, das implizite Gedächtnis beschränke sich auf einfache motorische oder perzepti-ve Fähigkeiten, aber Daniel Schacter und seine
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