Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
früher auf Flaschen kleben mußte, sondern brachte ihn auch in die damalige Beklemmung zurück, die Armut, die langen Tage in der Fabrik, den Bankrott seines Vaters. Es sind diese leicht nebligen Erinnerungen, die außer Bildern auch eine Stimmung aufleben lassen, ein Wissen darüber, ob man damals glücklich war oder eben gerade nicht. Um sich mit einer etwas systematischeren Datensammlung zu versorgen, organisierte das Psychologische Labor der Colgate University 1935 eine große Umfrage unter 254 tonangebenden Männern und Frauen (»men and women of eminen-ce«). Bei den Korrespondenten handelte es sich um Schriftsteller, Rechtsanwälte, Pfarrer und Wissenschaftler, altersmäßig im Durchschnitt Anfang fünfzig. Den Bericht von Donald Laird in der Scientific Monthly zu lesen ist aufgrund der vielen persönlichen Erfahrungen mit Gerüchen und den Erinnerungen, die sie wecken, ein großes Vergnügen. Mit übergroßer Mehrheit geben die Korrespondenten an, daß es gerade Gerüche sind, die sie in ihre Jugend zurückbringen. Dr. Bundy geht es so mit frischem Sägemehl: wenn er es riecht, vor allem, wenn er es riecht, bevor er es sieht, ist er wieder in der Sägemühle, in der sein Vater arbeitete. Es ist vor allem der spontane Charakter des Anlasses, der die Erinnerung so lebendig macht. Wenn er absichtlich versucht sich die Sägemühle vor Augen zu holen, bleibt die Szene verschwommen und leblos. Es gibt auch keinen anderen Reiz, schreibt er, der seinen Gedankengang so abrupt unterbrechen kann wie der Geruch. Diese Erfahrung haben noch mehr Menschen gemacht. Ein Mann, der als Kind viel mit Pferden zu tun hatte, schreibt, daß er als Erwachsener einmal einen Hauch von Stallmist auffing, der von einem hundert Meter entfernten Karren wehte: durch den Schock der Erinnerungen, die ihn plötzlich überfielen, blieb er wie angewurzelt stehen. Manche Assoziationen begleiten einen ein Leben lang. Ein dreiundsiebzigjähriger Versicherungsmakler wurde durch bestimmte Gerüche in die Zeit zurückgeführt, als er gerade drei Jahre alt war, »die Zeit der Besetzung von Norfolk«. (Wer nachrechnet und an einen Dreiundsiebzigjährigen denkt, der sich 1935 an etwas aus seinem dritten Lebensjahr erinnert, landet tatsächlich im letzten Jahr des Amerikanischen Bürgerkriegs.) Gerüche können einen von einem Moment zum anderen in eine Stimmung versetzen, die einem selbst erst noch ein Rätsel ist. »Ich saß im Zug«, schreibt eine Frau, »und war in anderen Umständen, als ich mich plötzlich mutlos, schüchtern und unglücklich fühlte.« Verwundert dachte sie über den Anlaß nach. Es mußte der Duft eines ihrer Mitreisenden sein, derselbe wie damals der ihres Tanzlehrers. Unmittelbar stand ihr wieder vor Augen, wie unglücklich sie in diesen Tanzstunden gewesen war. Eine andere Korrespondentin las in einem Buch und fühlte sich auf einmal sehr einsam. Auch sie hat Nachforschungen angestellt, und ihr fiel auf, daß das Buch, in dem sie las, genauso roch wie die Bücher, die sie als Kind gelesen hatte. Gerüche rufen nicht nur Vorfälle oder Szenen auf, sondern auch die damalige Stimmung oder sogar die emotionale Färbung eines Teils der Jugend. Eine Frau schreibt, daß der Geruch von Flieder die Zeit zwischen ihrem zwölften und achtzehnten Lebensjahr zurückbringt, »vor allem den emotionalen Geschmack dieser Jahre und einen großen Teil ihrer Intensität«. Meistens ist die Assoziation angenehm, manchmal unangenehm, fast nie neutral. Es sind Gefühle, die man mit Vergnügen erneut erlebt, manche Korrespondenten sorgen dafür, daß sie den Geruch in ihrer Nähe halten. Ein Rechtsanwalt, der in Nevada in einem kleinen Bergarbeiterstädtchen aufgewachsen war, zog später in einen feuchten und regnerischen Teil des Landes und litt dort unter seinem »ewigen Heimweh nach der Sonne, der Wärme, klarer, sauberer Luft, den eigentümlichen zitronenartigen Gerüchen der Wüste, den wundervollen Panoramen und kräftigen Farben.« Immer wenn er am Lake Tahoe Urlaub gemacht hatte, nahm er Salbei mit, den er zu Hause in ein Kästchen legte. Wenn er daran roch, stürmten die Bilder und Gefühle der Wüste mit aller Kraft wieder auf ihn ein, was ihn in die gewünschte Stimmung »friedlicher Wehmut« versetzte.
Mehrere Korrespondenten sind fasziniert vom Alter ihrer Geruchserinnerungen. Einer von ihnen schreibt, daß zeitweise neue Assoziationen entstehen können, sich aber letztendlich immer die älteste wiederherstellt. Den Geruch von Wolle
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