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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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durchgefallene Kandidaten oder an solche vergeben zu werden pflegte, die auf der Schule zurückgeblieben waren.«
    Ein dreiviertel Jahrhundert später, wie am gestrigen Tag.
    Wagenaar hat nach jahrelanger Tagebuchstudie seines eigenen Gedächtnisses noch eine gesonderte Analyse von Erinnerungen an sehr unangenehme Ereignisse gemacht, deren Ursache er selbst war (»my worst sins«). Das sind die Ereignisse, die denselben roten Kopf wie bei Demütigungen verursachen, und in gewisser Weise sind sie das auch, Kränkungen des Selbstbilds. Unter den 1.605 Ereignissen, über die er während der vier Jahre seines Experiments Buch geführt hatte, waren elf, die in diese peinliche Kategorie fielen. Wagenaar gibt als Beispiel, daß er einmal in anmaßendem Tonfall eine Dame ansprach, die vor seinem Haus parkte: es stellte sich heraus, daß sie behindert war, eine Sondergenehmigung hatte und bei den Nachbarn zu Besuch weilte. Die Erinnerungen aus dieser Kategorie waren offensichtlich von allen Sorten von Erinnerungen am leichtesten aufzurufen: besser als ihre >Antipoden<, die sehr angenehmen Erinnerungen, deren Ursache er selbst war, besser auch als die sehr unangenehmen Erinnerungen, deren Ursache er nicht selbst war. Wo Wagenaar im allgemeinen die Neigung hatte, unangenehme Ereignisse schneller zu vergessen als angenehme, stellte sich heraus, daß die wirklich sehr unangenehmen Erinnerungen sorgfältig registriert wurden.
    Wagenaar vermutet, daß scharfe Erinnerungen an derartige Ereignisse bei der Bearbeitung unseres Selbstbilds eine Rolle spielen und daß unser Gedächtnis dazu gerade die Ausnahmen, die Vorfälle, die am schwierigsten mit diesem Selbstbild in Übereinstimmung zu bringen sind, so gut speichert. Sie sorgen dafür, daß unser Selbstbild nicht allzuweit von der Wirklichkeit abweicht. In dieser Hinsicht haben >worst sins< eine heimliche Produktivität, die sie mit Demütigungen gemein haben. Demütigungen haben manchmal eine Auswirkung, die ihre Speicherung sozusagen garantiert. Manche Kränkungen haben größere Folgen, als nur das Selbstbild zu überarbeiten, sie geben dem Leben eine entscheidende Wendung und werden dann mit angemessenem Respekt im Gedächtnis beigesetzt. Aber auch Erinnerungen an Kränkungen, die im Rückblick auf das Leben keinen so prominenten Platz erhalten, haben einige bemerkenswerte Eigenschaften.
    Wenn Menschen von Kränkungen erzählen, ist es, als wäre das Ereignis im Gedächtnis in >real time< gespeichert. Seine Reproduktion und das Erzählen darüber nehmen so viel Zeit in Anspruch wie das Ereignis selbst: »Der Kerl rennt rein, ohne anzuklopfen, setzt sich mit einem Bein auf meinen Schreibtisch, ich sehe ihn heute noch da sitzen, und sagt eiskalt ...« Das sind Erinnerungen, die einen an die ersten Jahre des Films denken lassen, als es noch keine Montagetechniken gab, um der Geschichte ein bißchen mehr Tempo zu verleihen. Wo das Verstreichen der Zeit bei weniger gefühlsbetonten Erinnerungen ab und zu eine gewisse Stilisierung vornimmt, drehen sich Kränkungen wie frühere >Lumieres< vor dem Projektor unseres Gedächtnisses.
    Die spezielle Zeitskala, auf der man sich an Kränkungen erinnert, läßt dem Körper alle Chancen, auch die damaligen körperlichen Reaktionen zu wiederholen. Ich habe betagte Menschen bei einer siebzig Jahre alten Beleidigung erröten sehen. Auch wenn ein halbes Jahrhundert und mehr dazwischen liegt, kann man noch vor Wut zittern oder zornig auf die Lehne schlagen. Über die wirklich peinlichen Ereignisse kann man nicht sprechen, ohne erneut die Augen zu bedecken oder sich vom Zuhörer abwenden zu wollen.
    Und da ist noch etwas Merkwürdiges bei den Erinnerungen an Kränkungen. Man sieht sich selbst. Man denke zurück an eine Demütigung, und man sieht den eigenen roten Kopf, den Versuch, nicht merken zu lassen, wie verletzt man ist, man sieht, wie andere schallend lachen oder einen mitleidig ansehen. Es ist, als hätte man die Szene nicht selbst aufgenommen, sondern sei einer der Schauspieler in der Szene. Ich sehe mich selbst nicken und zum ersten Damebrett laufen. Wundt muß sich selbst wieder in der Schulbank gesehen haben, als er sich an den ungebetenen Ratschlag zu seiner Laufbahn erinnerte. Wer sich gedemütigt fühlt, sieht sich selbst prompt von außen.
    Vielleicht erklärt das auch die Lebendigkeit solcher Erinnerungen. Man hat introspektiven Zugang zu der Verlegenheit, der Wut, der Verwirrung, die man von innen heraus kennt und an die man sich

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