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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Schatten, keine Akzente, man erkennt nicht, welcher Teil des Gebäudes in der Sonne steht oder ob die Sonne überhaupt scheint; es gibt keinen Hintergrund, keine Wolken. Häuser, die gegen Abend drohend und hohläugig aussehen können, wird man im Skizzenbuch von Stephen Wiltshire nicht finden. Eine Federzeichnung der Westerkerk von einem unbekannten Meister verdeutlicht den Unterschied: die Wiedergabe des Künstlers birgt Atmosphäre, Stephen zeichnet pure Räume, hochgezogen aus Linien und Konturen. Wenn künstlerisches Talent die Fähigkeit ist, Formen zu interpretieren, muß man vielleicht sagen, daß Stephens Zeichnungen mit Kunst nicht viel zu tun haben. Seine Giebel fallen mit ihrer räumlichen Struktur zusammen. Die Zeichnungen sind rein figurativ und konkret, eher reproduktiv als kreativ.
    Zeichnung der Westerkerk in Amsterdam von einem unbekannten Meister

    Von jemanden mit einem außergewöhnlich guten visuellen Gedächtnis sagt man, er habe ein fotografisches Gedächtnisc er speichere visuelle Eindrücke wie auf einer lichtempfindlichen Platte und sei später in der Lage, die Vorstellung innerlich zu reproduzieren. In der Gedächtnispsychologie sind zwei Prozesse identifiziert worden, die Übereinstimmungen mit einem solchen fotografischen Gedächtnis zeigen: das eidetische Gedächtnis und das Bildgedächtnis. Wer ein stark ausgeprägtes eidetisches Gedächtnis hat, ist in der Lage, sich eine angebotene Darstellung noch kurze Zeit, höchstens ein paar Minuten, >vor Augen zu halten<, nachdem man die Darstellung entfernt hat. Das Bild ähnelt mehr einem Nachbild, einem visuellen Echo, als einem erinnerten Bild. Tests mit eidetischem Gedächtnis laufen oft folgendermaßen ab: Der Versuchsleiter plaziert ein Bild auf einem Gestell vor einem gleichmäßigen Hintergrund. Die Versuchsperson betrachtet die Darstellung. Wenn das Bild weggenommen wird, kann sie die Darstellung vor den Hintergrund >projizieren<. Sie >sieht< das Bild in der Außenwelt. Ist es erst einmal verblaßt, ist das Bild allerdings definitiv weg: stellt man nach ein paar Tagen noch Fragen darüber, kann die Versuchsperson nicht mehr von der Darstellung reproduzieren als Menschen ohne eidetisches Gedächtnis. Bei dem zweiten Prozeß, der an eine fotografische Erinnerung denken läßt, dem Bildgedächtnis, ist die Versuchsperson in der Lage, ein ziemlich genaues Bild in die Erinnerung zurückzurufen, auch wenn Tage oder Monate verstrichen sind, seit sie es gesehen hat. Anders als beim eidetischen Gedächtnis sieht die Versuchsperson das Bild >in ihrem Kopf<. Es ist vor allem diese introspektive Differenz, die einen Unterschied zwischen den beiden Gedächtnisprozessen suggeriert.
    Es hätte wenig Zweck, Stephen zu fragen, ob er die Bilder seiner Häuser, Brücken und Kirchen nun >außen< oder >innen< sieht, er würde die Frage nicht verstehen. Mit seinem Handicap geht nun einmal einher, daß er kein Gefühl für Abstraktionen und Metaphern hat. Auch Experimente haben wenig Klarheit gebracht. Der britische Psychologe Neil O'Connor hat einige Gedächtnistests mit ihm durchgeführt, die das Rätsel in gewisser
    Weise noch vergrößert haben, denn Stephen scheint weder über den einen noch den anderen Typ von visuellem Gedächtnis zu verfügen. Das veranschaulicht ein kleiner Test, bei dem Stephen eine Sammlung von unterschiedlichen Schnüren und kleinen Figuren betrachten sollte. Anschließend konnte er sie nicht genauer nachzeichnen als seine Altersgenossen. Noch ein Hinweis darauf, daß er nicht ohne weiteres über ein fotografisches Gedächtnis für visuelle Formen verfügt, zeigt sich, wenn ihn jemand bittet, aus dem Gedächtnis das Wort >AMSTERDAM< aufzuschreiben. Er beginnt wie ein kleines Kind, das gerade schreiben gelernt hat: er legt für jeden Buchstaben erst eine obere und eine untere Linie fest und plaziert dann unter großer Anstrengung, Zungenspitze aus dem Mund, die Blockbuchstaben dazwischen. Verschwunden die freie Leichtigkeit, mit der er die kompliziertesten Fassaden und Türme auf Papier bringt, hölzern und unregelmäßig erscheinen die Blockbuchstaben zwischen den Linien. Warum hat er so viele Schwierigkeiten mit den Formen der Buchstaben, wenn er doch Gebäude genauestens aus dem Kopf reproduzieren kann?
    Die Beobachtung seiner Art zu zeichnen suggeriert eine gemischte Strategie, bestehend aus Codierung, Geschicklichkeit und vor allem einem überlegenen Gefühl für Muster. Um mit ersterem anzufangen: eine der Mitarbeiterinnen

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