Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Ihr Talent kommt extrem früh ans Licht, manchmal schon um das erste Lebensjahr herum. Es gibt keine Hinweise für einen genetischen Faktor: Eltern von Savants sind nicht öfter musikalisch begabt als Eltern durchschnittlicher Kinder. Savants wachsen auch nicht in einer besonders stimulierenden Umgebung auf, auch wenn ihr Talent, sobald es entdeckt ist, alle Chancen bekommt, sich zu entwickeln. Savants spielen Klavier - keine Gitarre, keine Violine, keine Oboe: Klavier. Fast alle Savants haben eine visuelle Behinderung. Deren Ursache kann unterschiedlich sein. Manche Savants sind blind oder sehbehindert, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft an Röteln erkrankte. Andere Savants bekamen nach ihrer zu frühen Geburt zuviel Sauerstoff ab, so daß bei den Gefäßen, die die Netzhaut mit Blut versorgen, eine Wucherung auftrat. Alle Savants haben einschneidende Sprachstörungen. Wenn überhaupt eine Sprachentwicklung in Gang kommt, ist diese verzögert. Der Wortschatz bleibt sehr begrenzt. Selbst wenn Savants lange Textstücke oder Unterhaltungen wörtlich wiederholen können - >Blind Tom< konnte ein viertelstündiges Gespräch wörtlich reproduzieren -, verstehen sie ihre Bedeutung nicht. Fast alle Savants plappern wie Papageien. Ihre übrigen Fertigkeiten sind nicht zu testen oder kaum entwickelt. Abstraktionen, Analogien und Sprichwörter liegen außerhalb ihrer Auffassungsgabe. Das Gedächtnis für Ziffern ist das einzige, was nicht zurückgeblieben ist, sondern ebensogut entwickelt wie bei ihren Altersgenossen. Vielleicht ist diese eine verschonte Funktion für eine kleine Überlappung mit einer anderen Kategorie von Savants verantwortlich: manche musikalische Savants können auch noch kalenderrechnen.
Bei musikalischen Savants hatte man lange Zeit die Vorstellung, ihr Talent liege ausschließlich auf der Ebene der Imitation. Sie würden buchstäblich reproduzieren, was sie hören oder vorgespielt bekommen. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts verglich man ihr Gedächtnis mit der Wachsrolle eines Phonographen, heutzutage ist dieselbe Auffassung bekannt als >tape recor-der view of memory<. Diese Vorstellung wurde durch Anekdoten über Savants genährt, die alles Note für Note nachspielten, inklusive der Fehler. Auch die Schnelligkeit, mit der Savants anfangen nachzuspielen, ohne eine Pause zum Überlegen, öffnet der Vorstellung von reiner Imitation Tür und Tor, als wäre das Nachspielen nicht mehr als die musikalische Variante ihrer Echolalie. Savants würden kahle, musikalische Strukturen spielen, ohne Interpretation oder Emotion, mit der Regelmäßigkeit - aber auch dem Ausdruck - eines Metronoms. Neuere Studien haben diese Auffassung nuanciert. Leon Miller sah häufig in älterer Literatur eine gewisse Verlegenheit in bezug auf die Diskrepanz zwischen dem musikalischen Talent von Savants und ihrer Schwachbegabt-heit. Oft wurde diese >aufgelöst<, indem man entweder das Talent oder die Schwachbegabtheit relativierte. In Experimenten mit Sa-vants, die er selbst durchgeführt hatte und in Veröffentlichungen über den heutigen Savant Paravicini zeigte sich, daß die Fertigkeiten von Savants viel näher an einer normalen musikalischen Begabung liegen, als man immer angenommen hatte.
Derek Paravicini wurde zu früh geboren. Die Schwangerschaft war erst 25 Wochen gediehen, und Derek wog bei seiner Geburt etwas mehr als ein Pfund. Der Sauerstoff, der ihn am Leben hielt, verursachte irreparable Schäden an den Netzhäuten. Auch seine Motorik war ernsthaft gestört. Als er ungefähr zwei Jahre alt war, fiel seine Empfänglichkeit für Klänge auf: was er auch an Geräuschen hörte, im Radio, aber auch das Zwitschern von Vögeln oder das Ticken und Klingen von Gläsern und Besteck, versuchte er mit der Stimme nachzuahmen. Auf einer elektrischen Kinderorgel spielte er nach, was er an Liedern hörte. Ein Jahr später kauften ihm seine Eltern ein Klavier. Adam Ockelford, Musikdozent an einem Institut für mehrfach behinderte Kinder und Dereks Mentor, hat sein Talent zur weiteren Entwicklung gebracht. Als er neun war, gab Derek Konzerte mit Jazzensembles. Alle Hölzernheit seiner Motorik, schreibt Ockelford, verschwindet in dem Moment, wo er die Tasten spürt. Mit denselben Händen, die noch keinen Knopf oder Gürtel schließen können, spielt er die kompliziertesten Musikstücke.
Das Einstudieren von Stücken kostet Zeit, Derek muß ein neues Stück eine Zeitlang jeden Tag ein paarmal hören, bevor es in seinem
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