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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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von Floating cities schreibt, daß Stephen bei Zeichnungen, die er nicht vor Ort beenden kann, manchmal unten auf der Seite in einer Art Geheimschrift Notizen macht, die er beim Zeichnen auszuarbeiten scheint. Niemand hat dieses Gekritzel entziffern können, aber es ist möglich, daß er einen eigenen Code für visuelle Formen entwickelt hat. Ein zweiter Teil seiner Strategie hat etwas von einem Trick an sich. Zeichner legen in der Regel erst die Konturen eines Gebäudes fest: Seitenwände, Dach, Grundlinie. Wenn anschließend die Fenster in die Fassade passen müssen, vor allem, wenn es viele sind, beginnt eine ziemlich komplizierte Meß- und Rechenaktion, um die Fenster an der richtigen Stelle zu zeichnen. Stephen macht das anders. Er arbeitet einfach von links nach rechts: legt erst die eine Seitenwand fest und zeichnet so lange Fenster und Ornamente, bis sie alle auf dem Papier sind, und schließt danach mit der anderen Seitenwand ab. Auch dann sind natürlich noch allerhand Probleme mit Verhältnissen zu lösen, doch man braucht nicht zu zählen oder messen.
    Aber der wichtigste Faktor in dieser speziellen Gabe Stephens scheint doch sein Gefühl für räumliche Verhältnisse zu sein. Er läßt sich nie bei Fehlern in der Anzahl der Fenster, der Ornamente oder Türen erwischen. Das ist seltsam angesichts der Tatsache, daß er kaum zählen kann. Hier muß also etwas anderes wirken als ein Code. Stephen scheint über eine Gabe zu verfügen, die man auch bei anderen Savants finden kann, die Fähigkeit, mit einem einzigen Blick die Anzahl der Elemente zu sehen, ohne sie zu zählen. Eigentlich hat jeder Mensch zumindest zu einem kleinen Teil diese Gabe. Wenn ich fünf Münzen hinlege und sie wie die Augen auf einem Würfel anordne, dann sieht jeder, ohne zu zählen, daß es fünf sind. Lege ich vier daneben und danach noch drei, immer im Muster des Würfels, kann jeder das Ganze nach einem einzigen Blick auf die Münzen fehlerfrei nachzeichnen. Niemand ist sich dabei der Tatsache bewußt, daß er auf diese Weise zwölf Elemente gezeichnet hat. Was man aufzeichnet, sind die Muster von fünf, vier und drei. Vielleicht hat das reproduzierende Talent Stephens mit einer extremen Erweiterung dieser Fähigkeit, Muster festzulegen, zu tun. Die sehr strukturierte und symmetrische Einteilung der meisten Fassaden hilft dabei natürlich.
    Der Code, die Zeichentricks und die Geschicklichkeit bei räumlichen Mustern sind nur ein kleiner Teil der Geschichte. Ungeklärt bleibt zum Beispiel die Virtuosität, mit der er perspektivische Probleme löst, und es ist auch nicht klar, weshalb bei ihm die Verarbeitung räumlicher Information so viel weiter entwickelt ist als bei anderen. Oliver Sacks, einer seiner Reisegefährten nach Moskau, ließ ihn einmal ein großes Puzzle legen. Damit war er ausgesprochen schnell fertig. Danach bat ihn Sacks, erneut ein Puzzle zu legen, aber diesmal mit der Abbildung nach unten. Stephen legte dieses Puzzle genauso schnell. Offenbar sah er die Puzzlestücke als räumliche Formen, nicht als Teile einer Abbildung. Wenn er etwas von einem Foto oder einer Ansichtskarte nachzeichnet, so daß das Problem der Ableitung von drei auf zwei Dimensionen sozusagen schon für ihn gelöst wurde, bekommt das Ergebnis eine fast fotografische Präzision. Aber warum begrenzt sich sein räumliches Talent auf Brücken, Gebäude und Plätze, während er so unbeholfene Porträts zeichnet? Stephens pathologischer Hintergrund macht es unwahrscheinlich, daß er mit seinen Zeichnungen die Grenzen seiner Gabe überschreiten kann. Jene Gabe ist die kühle und fast maschinelle Präzision einer Perspektivzeichnung. Stephen wirkt wie der Ausführende eines graphischen Programms, das irgendwann einmal in seinem Hirn installiert wurde und nicht erweiterungsfähig ist.
    Musikalische Savants
    Der Musikpsychologe Leon Miller ist im ersten Kapitel seines Musical Savants (1989) die Fallstudien von 13 musikalischen Savants durchgegangen. Er begann mit >Blind Tom<, geboren 1849 auf einer Sklavenplantage und im Alter von zehn Jahren ein herumreisender Konzertpianist. Mit seinem Wortschatz von weniger als hundert Wörtern und einem Repertoire von Tausenden von Stücken war er der erste Repräsentant von etwas, was sich als Muster identifizieren läßt. Es wiederholt sich mit relativ geringen Variationen. Musikalische Savants sind in der Mehrzahl Männer, in einem Verhältnis von ungefähr fünf zu eins. Sie haben ausnahmslos ein absolutes Gehör.

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