Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
»Wäre ich in einem früheren Leben dort ermordet worden, hätte ich mich nicht besser an diese Stelle erinnern können, es war, als würde mein Blut in den Adern stocken.«
Der Dichter Dante Gabriel Rossetti beschrieb 1854 in »Sudden Light«, wie er eines Abends neben seiner Geliebten stand und exakt in dem Moment, als eine Schwalbe entlangstrich, von dem Gefühl überfallen wurde, in einem früheren Leben genau so mit ihr dagestanden zu haben:
»You have been mine before -How long ago I may not know:
But just when at that swallow's soar Your neck turned so,
Some veil did fall, I knew it all of yore,
Has this been thus before?«
Für Rossetti ist es ein tröstender Gedanke: die Zeit wird gleichzeitig mit ihrem Leben ihre Liebe wiederherstellen.
Auch Louis Couperus hat auf ein früheres Leben angespielt. In seinem Roman Extaze (1892) hört Cecile am Kaminfeuer Jules zu, der eine Romanze auf dem Klavier spielt. »In einer rätselhaften Stimmung«, schreibt Couperus, »kam es ihr so vor, als hätte sie die Romanze so, genau so gespielt, wie Jules sie spielte, schon einmal gehört, vor langer Zeit, in ihrem Seelenleben von früher, vor Jahrhunderten, so, genau so, in diesem Kreis von Menschen, dort vor dem Kamin ...«
Dieses »Seelenleben von früher« als Erklärung für Dejä-vu-Erlebnisse kennt ein paar Varianten. Die erste ist, daß Dejä-vu-Er-lebnisse an Schnittstellen mit vorigen Leben entstehen. Man spaziert arglos in einer Stadt, in der man zum ersten Mal ist, biegt um eine Ecke und steht plötzlich vor einem Haus, das einem so vertraut ist, daß man es bestimmt aus einem früheren Leben kennt. Dieser Hypothese zufolge enthält unser Gedächtnis latente Erinnerungen an dieses frühere Leben, die durch die plötzliche Übereinstimmung mit der aktuellen Erfahrung anfangen mitzuschwingen und so ein Gefühl der Wiederholung verursachen. Das Dejä-vu-Erlebnis ist an diesen einen Moment gekoppelt, in dem sich die Leben kreuzen. Das ist eine Hypothese, die dicht bei dem direkten Erleben einer Dejä-vu-Empfindung bleibt. Aber es gibt auch vieles, was dagegen spricht. Mit diesen mitschwingenden >al-ten< Erinnerungen sollte man einen allmählicheren Verlauf eines Dejä-vu-Erlebnisses erwarten, keinen plötzlichen Anfang und kein plötzliches Ende. Man sollte auch erwarten, daß das Gefühl von Erinnerung in dem Maße zunimmt, je größer die Übereinstimmung zwischen dem heutigen und dem vorigen Leben ist. Indem man auf das Haus zuspaziert, müßte man das Dejä-vu-Erleb-nis intensivieren oder verlängern können. Keins von beidem scheint der Fall zu sein, ein Dejä-vu-Erlebnis hat einen Alles-oder-Nichts-Charakter und ist zu ätherisch, um festgehalten zu werden. Gegen die Hypothese eines vorigen Lebens spricht auch, daß einem bei einem Dejä-vu-Erlebnis nicht nur eine bestimmte Szene - dieses eine Haus - bekannt vorkommt, sondern auch die
Menschen um einen herum, der Zeitpunkt, das Wetter, sogar Stimmung und Gedanken haben einen unbestimmt vertrauten Charakter.
Dieser Eindruck eines vollkommenen Duplikats wird auch schon mal als Beweis für die viel radikalere Hypothese genommen, daß sich unser gesamtes Leben endlos in exakt der gleichen Form wiederholt. Im normalen Alltagsleben ist uns das nicht bewußt, aber ab und zu, in einem Augenblick von >sudden light<, sehen wir in unserem heutigen Leben die Wiederholung. Ein Dejä-vu-Erlebnis ist der Schlitz in der Zeit, der uns plötzlich einen Blick in die ewige Wiederkehr unserer eigenen Existenz gönnt. »Some veil did fall« - für einen Augenblick ist alles hell. Aber gerade die identische Wiederholung wirft auch eine lästige Frage auf. Denn warum sehen wir dann nicht unser gesamtes Leben als ein einziges langgestrecktes Dejä-vu-Erlebnis? Müßte ein Dejä-vu-Erleb-nis dann nicht eher die Regel sein und das normale, unverdoppel-te Leben die Ausnahme? Eine heikle Frage ist auch, ob ein solches Dejä-vu-Erlebnis selbst zur Wiederholung dieser vorigen Leben gehört. Sollte das Dejä-vu-Erlebnis neu sein, dann ist das heutige Leben schon keine exakte Wiederholung mehr. Und wenn in den vorigen Leben schon an derselben Stelle Dejä-vu-Erlebnisse waren, ist immer noch nicht geklärt, wie die dann zu deuten sind. Das ist eine Hypothese, die einen schwindelig macht: die Erklärung wiederholt das Mysterium bis ins Unendliche.
Vielleicht ist es gut, Wigan, der schließlich damit angefangen hat, das letzte Wort über dieses >sentiment of pre-existence< zu geben. Er
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