Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
man vernahm.« Die Erinnerung an diese Reise blieb so lebendig, daß Van den Hull ein halbes Jahrhundert später, wieder im Sommer, dasselbe Nachtboot nach Utrecht nahm, um zu sehen, »ob diesmal dieselben Wahrnehmungen bei mir geweckt werden würden wie in meiner Kindheit.« Er blieb also wach, kletterte um zwei Uhr auf das Oberdeck und versuchte alles so zu sehen, wie er es fünfzig Jahre zuvor gesehen hatte. Das Experiment mißlingt kläglich. Vieles ist gleich geblieben, aber es berührt den fast sechzigjährigen Van den Hull nicht mehr. Statt dessen wird er von den schwermütigsten Gedanken überfallen. Wo sind all seine Reisegefährten von damals? Der Fährmann am Ruder, der Knecht, der Treidler, der die Schute zog, die reichen Geschlechter, die in den Landhäusern schliefen, aber auch sein eigener Vater: »Ach, sie sind nicht mehr: in ihren Gräbern liegen sie erstarrt, vielleicht verfault! Damals, noch so voller Kraft und Leben, nunmehr, sowohl die Älteren als auch die Jüngeren an Tagen, alle zusammen im selben Zustand der Zerstörung!« Nur der Domturm, auf den er in der Dämmerung zugleitet, steht noch an derselben Stelle und wird dort auch noch stehen, sinniert Van den Hull, wenn er selbst den Weg seiner lieben Vorfahren gegangen sein wird.
Was sich in der Autobiographie schon früh als Thema abzuzeichnen beginnt, ist die Aufmerksamkeit für seine eigene Lern-begierde als Kind. Von allen Schulen berichtet er, bei was er sich gemeldet hat (oder gerade nicht), welche Preise er errang, wie sich seine eigenen Leistungen von denen anderer Kinder unterschieden, welche Lehrbücher er bekam oder selbst kaufte. In dieser Hinsicht sind es wirklich Memoiren eines Lehrers und nicht etwa die eines Kaufmanns oder Pfarrers. In späteren Jahren beschreibt er genauso detailliert, was er während seiner Laufbahn als Assistent von Lehrer Schouten lernt (Buchhaltung und Trigonometrie), seine Tätigkeiten als Unterlehrer und die verschiedenen Posten, die er als Lehrer an Internaten innehatte. Ein anderes Thema ist die Leidenschaft, mit der er sich sozial verbessern will, indem er mit höheren Kreisen Umgang pflegt, dem Großbürgertum. Die gesamte Autobiographie hindurch widmet er der Kleidung, die zu seinen Ambitionen paßt, den Umgangsformen, die er sich dafür zu eigen machen muß, den Talenten, die ihm dabei zugute kommen, den Freundschaften, die ihm dabei helfen können, größte Aufmerksamkeit. Vieles von dem, was er als Kind, junger Mann und Erwachsener erlebt, verweist auf die gesellschaftliche Position, die er letzten Endes erreichen sollte. Umgekehrt ist es auch die Position gewesen, die gerade diesen Erinnerungen Bedeutung gab: Van den Hull sah sich selbst als Mann, der das geworden war, wovon er als Jüngling träumte.
»Als wäre es gestern geschehen«
Seine Ambitionen hatten auch eine Kehrseite. Van den Hull, schrieb er selbst, war von klein an »empfindsam gewesen für Schande, Beleidigung und Fehleinschätzung«. Es ist tatsächlich einer der auffälligsten Züge seiner Autobiographie. Immer wenn er sich - zurückblickend - an etwas erinnert, das ihn gekränkt hat, wird die Beschreibung sehr detailliert. In späteren Jahren scheint diese Sensibilität aus seiner einfachen Abstammung herzurühren. Er beschreibt mehrere Zwischenfälle, in denen er glaubt, daß die Art und Weise, wie man sich ihm gegenüber verhalten hatte, nicht in Übereinstimmung mit dem Ansehen stand, das er in der Zwischenzeit mit so viel Mühe erworben hatte. Aber auch als Kind konnte er Kränkungen nur schwer ertragen. Als er zusammen mit seinem Freund Dictus als Assistent an der Schule von Lehrer Schouten angestellt war, erwartete er, daß das harte Regiment von Leibesstrafen - Ochsenziemer, Stockschläge, ein Seilende - für die Schüler galt, aber doch sicher nicht für die Assistenten. Darin irrte er sich: »Ich erinnere mich nur zu gut, wie er mir kurz nach meiner Anstellung in dieser Position eines schönen Vormittags vor den Augen der gesamten Schuljugend ein paar tüchtige Schläge verpaßte.« Schouten brauchte dazu übrigens keinen großen Anlaß, »eine einzige nicht schön geschriebene Zeile« reichte bereits aus. Eines Tages sollte Van den Hull wegen eines leichten Verstoßes in Schoutens Zimmer kommen. Um sich vor der Tracht Prügel zu schützen, hatte er sich ein Schreibheft in die Hose gestopft. Die List wurde entdeckt, und Schouten hielt es offensichtlich für eine so schöne Geschichte, daß er sie seinem
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