Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Zwischenfall mit Krijntje, »als wäre es gestern geschehen«. Daß er kurz nach seiner Suspendierung und Entlassung Privatstunden hinzugewann, die viel mehr einbrachten als die paar Groschen, die er bei der Wallonischen Kirche verdiente, ist rund 35 Jahre später noch immer ein Grund für tiefste Genugtuung: »Während ich dies schreibe, läßt die Erinnerung an diesen Segen meinem Auge noch eine Träne der Dankbarkeit entfließen.« Die unzähligen Seiten, die Van den Hull l'Ange gewidmet hat, nicht als laufende Geschichte, sondern in Form eines detaillierten Protokolls, unterstreichen den abweichenden Platz, den Demütigungen im Gedächtnis einnehmen. Kränkungen scheinen sich mitten unter den anderen Erinnerungen auszudehnen oder besser: nicht mit dem Rest zu schrumpfen. Sie behalten ihren ursprünglichen Umfang, aber auch ihre Farbe, ihren Geschmack und die Schärfe. Im Alter haben sie offenbar immer noch die Lebendigkeit, die man lieber für andere Erinnerungen reserviert hätte.
»Ich sah im ganzen Weltall niemand anderen als Lina«
1811 nimmt Pfarrer l'Ange einen Ruf nach Amsterdam an. Er verläßt Haarlem, aber noch jahrelang fühlt sich Van den Hull behindert, wenn nicht durch l'Ange selbst, so durch einen seiner zahlreichen Freunde und Verwandten. Die Geschichte seines eigenen Aufstiegs erhält durch diesen Widerstand nachgerade einen triumphierenden Charakter. 1803 gründet er sein eigenes Internat und mietet dafür ein Haus an der Oude Gracht. Für seinen Vater kauft er einen Garten, »140 rheinische Ruten groß«, halb Obst-, halb Gemüsegarten. Durch die schnell wachsende Schülerzahl muß er 1809 und 1814 erneut in eine größere Behausung umziehen. Die Geschäfte gehen so gut, daß sein Auge schließlich auf ein stattliches Gebäude in der St. Jansstraat fällt. Die Aussicht, dieses Haus kaufen zu können, schreibt er, macht ihn trunken vor Freude: »Ich schlich des Abends nach zehn Uhr bestimmt fünfundzwanzigmal aus dem Haus, um im Dunkeln die zukünftige Wohnung zu umrunden und die Schritte zu zählen, die ich dafür benötigte: das Haus war 110 von meinen Fußschritten tief und mit den Gärten 135 breit, ganz gewiß das geräumigste Haus in ganz Haarlem.« Mit Hilfe von Darlehen der Eltern seiner Schüler und einigen Haarlemer Förderern kann er es für 10.000 Gulden kaufen.
1820 bezieht Hull das vornehme Haus. Er nimmt seine Eltern mit, und sie verbringen bei ihm einen unbesorgten Lebensabend. Zwei unverheiratete Schwestern unterstützen ihn bei der Versorgung der Schüler. Er verfügt über treuergebene Unterlehrer. Sein Ruf ist gefestigt. Die angesehensten Familien der Niederlande schicken ihre Söhne nach Haarlem. Es sind Jahre des Wohlstands und Segens. Dennoch ist er noch nie so unglücklich gewesen wie gerade in diesem Haus: »Alles, was meine ersten vierzig Lebensjahre an Widerwärtigkeiten erbrachten, steht in keinem Verhältnis zu der Seelenangst, die mich elf lange Jahre folterte wie ein immerzu nagender Wurm.« Dieser Wurm ist eine hoffnungslose Liebe, der schrecklichste Zustand, in dem sich ein Mensch befinden kann, schreibt Van den Hull, und den nur Menschen verstehen können, die dasselbe erlebt haben, auch wenn deren Zahl nicht so groß sein wird, denkt er, »da derartig heftige Empfindungen das Leben der Leidenden untergraben, der Tod sie früh entreißt oder zu Verrückten macht und manche sogar in ihrer Verzweiflung ihr Leben verkürzen«.
Als er umgezogen war, begann Van der Hull über eine Ehe nachzudenken. Er war nun 42 Jahre alt, wohlhabend und sehnte sich danach, eine eigene Familie zu gründen. Einer seiner Zöglinge hatte eine Schwester. Er hatte sie nie gesehen, aber aus dem, was ihr Bruder über sie erzählte, folgerte Van den Hull, sie könne eine passende Gemahlin sein. Außerdem war sie Erbin eines großen Vermögens. In den Sommerferien des Jahres 1821 sucht er sie auf, um ihre Bekanntschaft zu machen. Er findet sie nicht sehr schön, aber doch lieb und freundlich, und reist wieder ab, ohne sie merken zu lassen, welches Ziel sein Besuch gehabt hat. Um keine übereilten Entscheidungen zu treffen, vereinbart er mit sich selbst, daß er ihr erst an einem Samstag im nächsten Monat August schreiben wird. Als dieser Tag anbricht und er im Begriff steht, seinen Brief zu beginnen, erledigt er erst noch etwas in der Stadt. Auf dem Weg nach Hause begegnet ihm auf der Nieuwe Gracht eine junge Dame, »von welcher ich mein Auge kaum abwandte und die, je näher sie mir kam,
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