Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
zu welchem ich auf dem Haager Kahn gekommen war, fiel also schon bald auf der Fußmatte der Familie Collot d'Escury wieder von mir ab.« Wenig später steht er wiederum beleidigt auf einer Fußmatte, diesmal der des Pfarrers der Wallonischen Gemeinde, der seinem Dienstmädchen nicht aufträgt, Van den Hull eintreten zu lassen, »wie solches bei wohlerzogenen Herrschaften gebräuchlich ist«, sondern kurz zur Tür kommt, auf die Verbeugung nicht reagiert und ihn wieder gehen läßt, nachdem er die Nachricht vernommen hat. Das Dienstmädchen des Pfarrers wirft die Tür hinter ihm ins Schloß, »als wäre ich ein Landstreicher«. Auch sie hat er vierzig Jahre danach nicht vergessen: »Oh, wie unauslöschlich ist das freche Gesicht dieses Mädchens in meine Seele eingeprägt!«
Nicht weiter kommen als bis zur Fußmatte, das sollte noch ein paarmal geschehen. Im übertragenen Sinn ist das auch seine Stellung in der Haarlemer Elite gewesen. Es war das Ärgernis seiner alten Tage, daß er, Bewohner des vornehmsten Hauses von Haarlem, doch nicht in die Vereine und Gesellschaften, die Vorstände und Räte eingeladen wurde. Van den Hull sah darin die Hand desselben Pfarrers, der ihn an der Tür so ungehörig behandelt hatte: Josue Teissedre l'Ange. Sein Name taucht zum ersten Mal auf, als die Biographie beim Jahre 1800 angekommen ist und sollte erst daraus verschwinden, als Van den Hull 1853 sein Ableben mittei-len kann. Niemand hat ihm je ein so tiefes und anhaltendes Gefühl der Demütigung vermittelt wie dieser Pfarrer d'Ange.
Ihr erster Kontakt erfolgt auf Van den Hulls Anstellung als Vorsänger der Wallonischen Gemeinde. Schon während der Probelesung entsteht ein Wortwechsel über die richtige Aussprache. Van den Hull hatte in Groningen von einem geborenen Franzosen Französisch sprechen gelernt und machte in Haarlem Bekanntschaft mit einer Aussprache, die vielleicht als Folge von »französisch-schweizerischen Gouverneuren und Gouvernanten« in den Ohren Van den Hulls gründlich mißraten war. Er weigert sich, diese Aussprache zu übernehmen, und der Unterschied zwischen dem Französisch, das von der Kanzel erklingt und dem, was Van den Hull vom Lesepult aus vorträgt, fällt jedem auf. Die Meinungsverschiedenheit wird zum offenen Konflikt und schließlich zur Fehde. Durch Zutun l'Anges, da ist sich Van den Hull sicher, verliert er die Privatstunden, die er bei mehreren Familien gegeben hat und wird auch »nie wieder einen einzigen Heller verdienen dürfen bei der zahlreichen Nachkommenschaft der Herren Enschede, Guepin usw., mit welchen der Herr l'Ange auf freundschaftlichem Fuß verkehrte«. Er hat es auch, so vermutet er, l'An-ges Betreiben zu verdanken, daß man ihn auf die schmählichste Weise aus dem Orchester der Theatergesellschaft Leerzam Ver-maak vertreibt: in der Pause einer Aufführung schickt man ihn weg, »im Namen der Angestellten und so vieler anderer, die da saßen«. Zu diesen Zwischenfällen gesellt sich ein Streit über die Entlohnung. Wo l'Ange nach Van den Hull sehr wohl Zeit hat, Kinder vornehmer Leute auf das Bekenntnis vorzubereiten (und dafür von deren Eltern mit »Schränken voller Pendeluhren« belohnt wird), überläßt er ihm die Waisen und Mittellosen. 1806 kommt es zu einem verbitterten Konflikt über das Examen, auf das Van den Hull die Jugend vorbereiten soll. Der von l'Ange aufgestachelte Kirchenrat suspendiert ihn als Vorsänger und Lehrer.
Van den Hulls autobiographische Behandlung dieser Episode entbehrt jeglichen Maßes. Die Angelegenheit geht ihm 1842 noch genauso nahe wie 1806. Es ist, als würde er plötzlich ein altes Dossier auf den Tisch legen und in wachsender Aufregung ein Dokument nach dem anderen daraus vorlesen. Er kopiert auch wirklich Briefe in aller Ausführlichkeit, legt Auszüge vor, verweist auf Fehler und Widersprüche in den Beschuldigungen, redet hier und da erregt auf den Leser ein oder richtet sich sogar direkt an l'Ange. Ganze Absätze lang beendet er jeden Satz mit einem Ausrufezeichen. Jedes Beispiel einer ungerechten Behandlung scheint das nächste nach sich zu ziehen. Pfarrer l'Ange hat in diesen Memoiren ein langes Strafregister, kein Delikt ist zu gering, um vermeldet zu werden, kein Vergehen ist verjährt. In diesem einen Kapitel ist die Struktur einer Erzählung, so typisch für die restliche Autobiographie, auch vollkommen verschwunden. Van den Hull verteidigt, widerlegt und beschuldigt, und beim Schreiben erlebt er alles, genau wie bei dem
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