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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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unter ihnen. Wie traurig er wohl sein mußte, weil er immer dort im unangenehmen Dunkel bleiben mußte! Willem bekommt so viel Mitleid mit seinem Brüderchen, daß er eines Nachts träumt, daß er zu diesem Haus geht, die Haustür öffnet und in ein dunkles Zimmer kommt, in dem nur ein kleiner Sonnenstrahl, der durch einen Spalt im Fenster hineinlugt, etwas Licht verbreitet.
    »Dieses Zimmer nun war von oben bis unten voller kleiner Kinder, die, sobald sie mich bemerkten, ihre hübschen Köpfchen zusammensteckten und mich sprachlos anstarrten. Sie zeigten sich mir allerdings nicht mit Händen und Füßen, sondern nur als hübsche Köpfchen, die als so viele Schemen ruhelos durcheinanderschwebten, während ein Lichtglanz nur diejenigen beschien, auf die der Sonnenstrahl fiel. Was mich allerdings betrübte, war, daß ich mein Brüderchen nicht unter ihnen entdeckte und daß, obschon mich alle beim Schweben fest im Auge behielten, keiner auf meine Frage antwortete, wo mein Brüderchen war. Das einzige Geräusch, das ich in diesem dunklen Zimmer vernahm, war ein leises Surren, das durch das ruhelose Schweben der Schemen verursacht wurde und für das ich keinen besseren Vergleich habe als das Summen einer fliegenden Mücke. Wie klar steht mir dieses Traumgesicht aus Kinderzeiten noch vor Augen; wie deutlich sehe ich noch jene vielen Schatten und darunter vor allem einen, der mich besonders lange anstarrte und auf dessen Gesicht ich so viel Freude entdeckte. Sooft ich noch heute, in meiner Einsamkeit, eine Mücke surren höre, erinnere ich mich an diesen Traum und empfinde dann zugleich dasselbe Gefühl, das er in mir so kurz nach dem Tod meines Brüderchens auslöste.«
    Vieles von dem, was Van den Hull über seine frühe Jugend erzählt, sind >Erlebnisse vom ersten Mal<. 1785 darf er zum ersten Mal mit seinem Vater zu den Großeltern nach Maartensdijk. Die Reise dauert so lange, mit Treckschuten und Fußmärschen, daß sie ein Abenteuer für sich ist. Er erinnert sich auch, daß er zum ersten Mal auf Schlittschuhen steht: eines Nachts hat sein Vater ein Dutzend Eimer Wasser in die Gasse geschüttet, und am nächsten Morgen ist die Pfütze gefroren. Er sieht die ersten >joujoux de Normandie< (>Jojos<) auftauchen. Deutliche Erinnerungen scheint Van den Hull auch an seine ersten Schultage zu bewahren. Zwischen seinem vierten und seinem siebten Lebensjahr hat er nicht weniger als vier verschiedene Schulen besucht, bis man ihm in der letzten endlich anständig das ABC beibringt. Bei drei dieser vier Schulen beschreibt er ausführlich seine Eindrücke des ersten Tages: das Äußere des Lehrers, seine Kleidung, die anderen Kinder, das Klassenzimmer. Die vierte Schule stand an der Sparne. »Ich nahm«, schreibt Van den Hull, »bei meinem ersten Auftreten in der Schule, obgleich ganz unwillkürlich, so aufmerksam die Erscheinung von Lehrer Piets und seiner Haushälterin in mir auf, daß ihre Gesichtszüge unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt sind.« Obwohl Lehrer Piets schon einige Monate später stirbt, »so vergegenwärtige ich mir noch heute sein schmales, feines Gesicht, seine hellbraune und gerade geschnittene Perücke und den gut um den Leib sitzenden Schulrock genauso klar wie damals, vor einem halben Jahrhundert, als er dort vor mir stand«.
    Während er an seiner Biographie schreibt, verdeutlicht Van den Hull dem Leser auch, daß man ein erstes Mal nicht wiederholen kann. Im Sommer 1787, er ist dann fast neun, darf er seinen Vater wieder nach Maartensdijk begleiten. Sie nehmen das Nachtboot von Amsterdam nach Utrecht. Als der Morgen anbricht und alle schlafen, steht er leise auf und klettert auf die Bank, um hinauszuschauen: »Ich vergesse niemals diesen frühen Morgen: niemals den Eindruck, welcher dieser Augenblick auf mein jugendliches Gemüt machte, vielleicht weil ich noch nie weder diese in stille Ruhe getauchte Natur noch die erste Dämmerung des herrlichsten Tagesanbruchs gesehen hatte. In den so wunderschön gelegenen Landhäusern entlang dem Fluß lag alles in tiefster Stille: auf dem Weg war noch keine Sterbensseele zu entdecken, alles Vieh schlief noch auf den Feldern: entfernte Gegenstände konnte man noch nicht unterscheiden; ein einzelner Nachtvogel zog über unser Fahrzeug hin: kein Lüftchen regte sich; nur das Wasser, das vor dem Kahn wegplätscherte (mir dünkt, ich hör' es noch), und ab und zu auch das durch den Treidel verursachte Rattern der Drehpfähle waren die einzigen Geräusche, die

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