Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Erinnerungen, die Versuchspersonen von durchschnittlich siebzig Jahren als Reaktion auf Reizwörter berichteten. Ungefähr die Hälfte der Erinnerungen bezog sich auf das vergangene Jahr und wurde hier weggelassen, weil sonst das Muster in den restlichen Erinnerungen nicht klar wiederzugeben ist. Von rechts nach links sieht man tatsächlich die normale Vergessenskurve: schnell und steil abfallend, je länger etwas her ist. Aber wo sich eine normale Vergessenskurve danach gleichmäßig weiter abschwächt, zeigt diese gerade eine Steigung zwischen dem fünfzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr: der Reminiszenzhöcker. Die Erhebung ist mit einem Tal im mittleren Lebensabschnitt verbunden.
Als Willem van den Hull in seinem dreiundsechzigsten Lebensjahr seine Autobiographie zu schreiben beginnt, führt er tatsächlich ein informelles Experiment mit einer einzigen Versuchsperson durch. Ohne Reizwörter oder Schemata, blätternd in seinen eigenen Tagebüchern und immer wieder seinen eigenen Assoziationen folgend, schreibt er auf, an was er sich erinnert. Er wählt für seinen Bericht eine chronologische Anlage. Manchmal ist er seiner Geschichte ein Stückchen voraus, manchmal muß er noch etwas erzählen, was eher geschehen war, aber insgesamt gesehen folgt er genau dem Gang seines Lebens. Dieser Aufbau ermöglicht es, zu zählen, wie viele Seiten Van den Hull jedem Lebensjahr gewidmet hat. Uber den Zeitraum von seinem vierten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr sind das im Durchschnitt fast 14. Das Kapitel zwischen seinem dreizehnten und einundzwanzigsten Lebensjahr umfaßt rund 15 Seiten pro Jahr, und das darauffolgende Kapitel bis zu seinem siebenundzwanzigsten sogar noch ein bißchen mehr. Aber danach sinkt die Anzahl der Seiten pro Lebensjahr. Das geschieht gleichmäßig schnell: unter zehn für den Zeitraum zwischen 27 und 37, weniger als sechs für die fünf Jahre danach und so geht es weiter abwärts bis hin zu noch nicht einmal vier Seiten für jedes Jahr zwischen seinem vierundfünfzigsten und zweiundsiebzigsten. Daß er für die letzten vier Jahre bis zu seinem sechsundsiebzigsten auf einen Durchschnitt von fünf Seiten kommt und die Anzahl demnach wieder etwas ansteigt, ist vor allem die Folge einer ausführlichen Wiedergabe dessen, was er in diesem Zeitraum schrieb, darunter seine Abhandlung Mutmaßung über Art und Ziel des Saturnrings.
Während er an den achthundert Seiten seiner Memoiren schrieb, hat Van den Hull also einen gewaltigen Reminiszenzeffekt demonstriert. Ein Histogramm der Anzahl von Seiten pro Lebensjahr würde in groben Zügen mit dem Histogramm der Siebzigjährigen übereinstimmen, die spontan lebendige Erinnerungen erzählen. Derselbe Höcker links, dasselbe schnelle Abfallen in Richtung der mittleren Lebensjahre, dieselbe Knappheit von Erinnerungen an die letzten Jahre. Dieses Muster macht neugierig. Welche Ursache hat die Anhäufung von Erinnerungen um das zwanzigste Lebensjahr herum? Ist das Gedächtnis dann schlicht-weg besser in Form? Erlebt jemand in dieser Lebensphase mehr erinnernswerte Dinge? Oder sieht man im Alter die Jugend in einem deutlicheren Licht, weil aus den dazwischenliegenden Jahren so viel verschwunden ist? Jede einzelne dieser Fragen lädt dazu ein, Van den Hulls Biographie zu lesen, sich anzuschauen, an was er sich genau zu erinnern behauptet, welche Vorfälle noch lebendig zu sein scheinen, welche Ereignisse erst noch detailliert beschrieben sind und später allmählich aus der Chronik verschwinden, kurzum: zu schauen, aus welchen Erinnerungen dieser Reminiszenz-Höcker eigentlich besteht, was ihm vorangeht und was ihm nachfolgt.
»Mir dünkt, ich hör' es noch«
Seine eigene Geschichte, schreibt Van den Hull, wäre er »zumindest seit meinem vierten Lebensjahr fast in der Lage gewesen ohne irgendeine Hilfe zu schreiben, weil mich die Natur mit einem sehr glücklichen Gedächtnis (mit Ausnahme des Behaltens von Namen) ausgestattet hat«. Und wenn er selbst etwas nicht mehr wußte, hätte seine ebenfalls mit einem guten Gedächtnis gesegnete Schwester Elisabeth (»eine lebende Chronik«) noch aushelfen können. Aber über die ersten vier Jahre seines eigenen Lebens kam die Information aus zweiter Hand. Er war am frühen Morgen des 16. September 1778 geboren. Es war ein bewegtes Jahr laut Van den Hull, der die Dinge gern im größeren Zusammenhang sah, denn es war gleichzeitig auch das Todesjahr von Linne, Rousseau und Voltaire. Außerdem hatte sich in
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