Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
nun an will ich Respekt einflößend, aber nicht autoritär sein. Als ich Bean abends zu Bett bringe, sage ich zu ihr, ich wisse, dass sie ab und zu ein paar bêtises machen müsse. Sie wirkt erleichtert. Zwischen uns entsteht so etwas wie Komplizenschaft.
»Würdest du das bitte auch Daddy sagen?«, bittet sie mich.
Bean, die nicht umsonst den ganzen Tag in einer französischen Vorschule verbringt, hat ein besseres Verständnis von Disziplin als ich. Eines Morgens stehe ich im Treppenhaus unseres Hauses. Simon ist auf Reisen, ich bin mit den Kindern allein, und wir sind schon spät dran. Ich muss die Jungs in den Kinderwagen setzen, damit ich Bean zur Vorschule bringen und sie anschließend in der crêche abgeben kann. Aber die Jungs weigern sich, in ihren Zwillingskinderwagen zu klettern. Sie wollen laufen, was noch länger dauert. Außerdem befinden wir uns gerade im Innenhof unseres Hauses, sodass die Nachbarn alles hören können, was wir sagen. Ich nehme all meine Autorität zusammen und bestehe darauf, dass sie sich in den Kinderwagen setzen. Vergeblich.
Bean hat mich beobachtet. Sie ist der Auffassung, dass ich in der Lage sein sollte, den beiden kleinen Jungen Beine zu machen.
»Sag einfach ›eins, zwei, drei‹!«, mischt sie sich genervt ein. Anscheinend sagen das ihre Lehrer immer, wenn ein wenig kooperatives Kind gehorchen soll.
Eins-zwei-drei-Sagen ist nicht gerade nobelpreisverdächtig. Manche amerikanische Eltern sagen das auch. Aber die Logik, die dahintersteckt, ist äußerst französisch. »Das gibt dem Kind Zeit und zollt ihm Respekt«, so Daniel Marcelli. 57 Das Kind sollte beim Gehorchen eine aktive Rolle spielen, und dazu gehört auch, dass es Zeit zum Reagieren hat.
In Il est permis d’obéir nennt Marcelli das Beispiel eines Kindes, das zu einem scharfen Messer greift. »Seine Mutter sieht es kühl an und sagt ruhig, aber bestimmt, mit leicht gerunzelter Stirn: ›Leg das weg!‹« In diesem Beispiel schaut das Kind seine Mutter an, rührt sich jedoch nicht. Fünfzehn Sekunden später fügt seine Mütter in noch bestimmterem Tonfall hinzu: »Du legst das sofort weg!«, und zehn Sekunden darauf: »Verstanden?«
Marcelli zufolge legt der kleine Junge das Messer anschließend auf den Tisch. »Das Gesicht der Mutter entspannt sich, ihre Stimme wird liebevoller, und sie sagt: ›Gut gemacht!‹ Dann erklärt sie ihm, dass das gefährlich ist und man sich mit einem Messer verletzen kann.«
Marcelli erklärt, dass das Kind letztlich gehorcht hat, aber auch aktiv an dem Prozess beteiligt war »Das Kind hat gehorcht, seine Mutter bedankt sich, wenn auch nicht übertrieben, und das Kind erkennt ihre Autorität an. Damit das funktioniert, muss man reden, Zeit, Geduld und gegenseitige Achtung mitbringen. Wäre die Mutter zum Kind gestürzt und hätte ihm das Messer aus der Hand gerissen, hätte das Kind nicht viel begriffen.«
Es ist schwer, Chef zu sein und dem Kind gleichzeitig zuzuhören und es zu respektieren. Als ich Joey eines Nachmittags anziehe und die crêche mit ihm verlassen will, bricht er plötzlich in Tränen aus. Ich bin noch ganz in meinem neuen »Ich entscheide!«-Modus. Ich bin fanatisch wie eine frisch Bekehrte. Ich meine, dass das so ein Vorfall wie mit Adrien auf der Arztwaage ist: Ich werde Joey zwingen, sich anzuziehen.
Aber Fatima, seine Lieblingserzieherin, hört den Krawall und betritt den Umkleideraum. Sie reagiert genau entgegengesetzt. Joey bekommt zu Hause öfter Wutanfälle, aber hier in der crêche ist das eher ungewöhnlich. Fatima beugt sich vor und streicht sanft über Joeys Stirn.
»Was hast du?«, fragt sie ihn wiederholt sanft. Sie betrachtet den Wutanfall nicht als bloße Trotzreaktion, sondern als Äußerung eines kleinen, blonden, vernunftbegabten Wesens.
Nach ein, zwei Minuten beruhigt sich Joey so weit, dass er mit Hilfe von Worten und Gesten mitteilen kann, er wolle seine Mütze aus dem Spind holen. Darum ging es die ganze Zeit! Fatima hebt Joey von der Bank, sieht zu, wie er zum Spind läuft, ihn aufmacht und die Mütze herausholt. Anschließend ist er sage und abmarschbereit.
Fatima ist nicht leicht zu manipulieren. Sie besitzt eine große Autorität im Umgang mit Kindern. Aus ihrer Sicht hat sie Joey nicht nachgegeben, nur weil sie ihm gelassen zugehört hat. Sie hat ihn nur beruhigt und ihm die Möglichkeit gegeben, seinen Wunsch zu äußern.
Leider gibt es endlos viele Szenarien und kein Patentrezept. Die Franzosen haben jede Menge
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